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Orbán zur „Lage der Nation“

2. Mar. 2015

In Hinblick auf die alljährliche Rede des Ministerpräsidenten vor einem Publikum von Gefolgsleuten fragen sich Kommentatoren, ob sein Appell, härter zu arbeiten und zu kämpfen, genügen werde, um das schwächelnde Fidesz-Stimmvolk wieder auf Vordermann zu bringen. Das immerhin ist, ungeachtet der Niederlage des eigenen Kandidaten bei der Nachwahl in Veszprém vom 22. Februar, nach wie vor ungleich stärker als die Anhängerschaft der Herausforderer.

Im Leitartikel auf der Titelseite der Wochenendausgabe von Népszabadság heißt es, den „Tiefschlag“ für den Ministerpräsidenten habe Gábor G. Fodor ausgeteilt. Fodor – ein befreundeter Politologe – bezeichnete Orbáns Hauptschlagwort vom „polgári Magyarország“ (bürgerliches Ungarn bzw. Ungarn der Bürger), mit dem ihm 1998 der Wahlsieg gelungen war, als ein einfaches Marketingprodukt. Orbán habe „eine halbe Stunde lang die bürgerliche Öffentlichkeit streicheln“ müssen, um diesen Schaden zu reparieren, schreibt Népszabadság. Allerdings vermutet die Zeitung, dass fünf Jahre eines „monotonen Marsches in Richtung östliche Autokratien und eines staatsmonopolistischen Kapitalismus“ schwerer wiegen würden als seine Worte. Die linksliberale Tageszeitung zitiert Orbán mit den Worten, wonach „individuelles Interesse niemals gegen den Dienst an der Nation triumphieren kann“, und nennt dies „den witzigsten Satz des Ministerpräsidenten“, während gleichzeitig die Kameras auf „das ungepflegte Gesicht des Casino-Moguls Andy Vajna“ gerichtet gewesen seien. Nach Ansicht von Népszabadság war die Rede ziemlich langweilig. Dagegen seien die Schlussworte – Guten Morgen, Ungarn!“ – unerwarteterweise aufrichtig gewesen.

Der neue Slogan „Guten Morgen, Ungarn!“ sei ein Beweis dafür, dass es sich bei der Nachwahl-Niederlage in Veszprém um einen harten Schlag für den Ministerpräsidenten gehandelt habe, schreibt György Sebes in Népszava. Zudem habe er die Alarmglocke mit einigem Sarkasmus in seiner Stimme schrillen lassen. Anders gesagt, fährt der Autor fort, „hat er nicht komplett den Kontakt zur Realität verloren“. Ansonsten hält Sebes die Diagnose des Ministerpräsidenten für vollkommen unbegründet. So glaube er zum Beispiel nicht, dass sich Ungarn, wie von Orbán behauptet, als Ergebnis seiner Außenpolitik und seiner auf einem christlich-demokratischen Fundament aufgebauten Regierungsform zum Vorreiter Mitteleuropas aufschwingen werde. In Reaktion auf das Debakel in Veszprém habe Orbán seine Unterstützer aufgerufen, „den Kampf“ zu intensivieren, was für Sebes bedeutet, dass der Ministerpräsident sich Leben und Regieren ohne Kampf nicht vorstellen könne.

Die Einschätzung des Ministerpräsidenten über Ungarns Erfolge in der Wirtschaft und bei den demografischen Entwicklungen könne infrage gestellt werden, konstatiert Bence Pintér auf Mandiner, räumt jedoch ein, dass die Umwandlung von Fremdwährungsschulden ein Manöver der Regierung gerade zum rechten Zeitpunkt gewesen sei. Orbáns Satz über den Dienst an der Nation, der über individuellen Interessen stehen sollte, interpretiert der Autor als Anspielung auf die Simicska-Affäre, die breites Unbehagen im Fidesz-Lager ausgelöst habe. Pintér widerspricht der Antwort des Ministerpräsidenten auf den Verlust des Veszprémer Parlamentssitzes, wonach die Partei und ihre Unterstützer künftig entschiedener und gegen niemand anderen als gegen die Sozialisten kämpfen sollten. Pintér merkt an, dass die Sozialisten total unbeliebt und die Nummer 2 im Parteienspektrum die Rechtsradikalen von Jobbik seien, die vom Ministerpräsidenten in seiner Rede nicht einmal erwähnt wurden. Gewiss, die von Orbán zur neuen Zielgruppe ausgerufenen „hart arbeitenden Menschen“ bildeten einen wichtigen Teil der Jobbik-Wählerschaft. Die Sozialisten jedoch als Vogelscheuche zu benutzen, werde nicht ausreichen, um einen maßgeblichen Teil des Fidesz-Wahlvolkes zu mobilisieren, meint Pintér. Vielleicht gebe es mehr Menschen, die sich Frieden wünschten, als solche, die kampfbereit seien, bemerkt der Analyst abschließend.

Albert Gazda von Cink hingegen findet den Ansatz des Ministerpräsidenten keineswegs wirkungslos. Orbán verstehe, dass der Ansatz Intellektuelle nicht überzeuge, doch seien sie auch nicht angesprochen worden. Der Ministerpräsident habe sich ausschließlich an seine Anhängerschaft gewandt und seine Rede sei darauf ausgerichtet gewesen, den eigenen Leuten Mut zuzusprechen. Deshalb habe er ihnen zu verstehen gegeben, wer die Feinde seien, und ihnen gesagt, sie sollten sich bemühen, „hart arbeitende Menschen zu gewinnen“, um ungünstige Trends bei den Meinungsumfragen umzukehren. Intellektuelle mögen bekritteln, dass der neue Slogan bei den britischen Tories abgekupfert worden sei, doch sei dies ein Argument, das die „Zielgruppe“ niemals erreichen werde. Der Fidesz werde die nächsten Nachwahlen in Tapolca in „einer ganz anderen Stimmung“ angehen, gibt sich Gazda überzeugt.

Csaba Lukács zitiert in Magyar Nemzet einführende Worte des Ministers für Humanressourcen, Zoltán Balogh. (Dieser hatte die Vorstellung heftig kritisiert, wonach es sich beim Slogan vom „bürgerlichen Ungarn“ nur um einen Marketingtrick handeln würde. Weiter sagte der Minister, man wolle in einem Land leben, in dem die Wahrheit stärker sei als die Lüge, in der Ehrlichkeit stärker honoriert werde als Klüngelei. Die Gewinner würden jene seien, die an die Kraft der Liebe, der Ehrlichkeit und der Solidarität glaubten, nicht aber die Vertreter der Arroganz – Anm. d. Red.) Lukács fragt, wie viele Leute innerhalb und im Umfeld der Regierung die christlich-sozialen Werte des Dienens und der Bescheidenheit augenscheinlich missachteten. Ungarn folge dem richtigen Weg, wie die Zahlen des Ministerpräsidenten zur Wirtschaft und den demografischen Entwicklungen gezeigt hätten, räumt der Autor ein und begrüßt die Forderung des Ministerpräsidenten, dass „wir einander geradeheraus sagen sollten, wenn es etwas gibt, was uns überhaupt nicht gefällt“. Lukács schließt mit der Warnung, dass der Slogan „Guten Morgen, Ungarn!“ nicht ausreichen werde, damit die Regierung „das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnt, das sich als Ergebnis menschlicher Schwächen augenscheinlich verflüchtigt hat“.

Auch Zsolt Bayer von Magyar Hírlap glaubt, dass die Leute erschöpft sind von den Kämpfen der vergangenen Jahre und sie Ruhe sowie eine Verbesserung ihres Lebensstandards wünschten. Aber Frieden werde nicht kommen, denn die Gegner der Regierung seien unversöhnlich. Dennoch glaubt der Autor, dass die Regierung ihren Kampf führen und dabei weniger Fehler machen sollte als in den vergangenen Monaten „hyperaktiven“ Agierens. In Veszprém seien viele regierungsfreundliche Wähler dem Urnengang ferngeblieben, „weil sie etwas signalisieren wollten“. Die Botschaft habe vielleicht gelautet, dass „sich die Dinge nicht in die ihrer Ansicht nach richtige Richtung bewegen würden“. Solange die Regierung einen von ihren Gegnern aufgezwungenen Kampf führe, müsse sie dies im Hinterkopf behalten, warnt Bayer.

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