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Ungarn – ein Monat nach der Wahl

7. May. 2018

Kommentatoren des gesamten politischen Spektrums sind sich einig, dass der eindrucksvolle Sieg der Koalitionsparteien in erster Linie auf die Schwäche der Opposition zurückzuführen sei. Immerhin machen einige linksliberale Analysten auch auf einen ihrer Ansicht nach unfairen Wahlkampfvorteil seitens der Regierenden aufmerksam.

In der Wochenzeitung Élet és Irodalom geißelt Júlia Lakatos die linksliberale Seite für ihre nicht vorhandene Fähigkeit, die Verlierer der jüngeren ungarischen Geschichte anzusprechen. Immerhin räumt die Autorin ein, dass ihre Aufgabe tatsächlich nicht leicht gewesen sei, denn die Lage der ärmsten Mitbürgerinnen und Mitbürger hätte einzig auf Kosten der Mittelschicht verbessert werden können. Jeglicher dahingehender Versuch wäre allerdings von einflussreichen Gesellschaftsschichten massiv bekämpft worden. Dasselbe gelte für ein höchst unpopuläres Kontern der gegen Einwanderer gerichteten Regierungsrhetorik. Kein Wunder also, wenn die Opposition auf diese beiden Möglichkeiten verzichtete habe, woraufhin zahlreiche Beobachter sogar geargwöhnt hätten, sie würde sich nicht wirklich für einen Wandel einsetzen. Andererseits, so Lakatos weiter, befinde sich die Linke auch außerhalb Ungarns in argen Schwierigkeiten. Linksparteien hätten intensive Kontakte zu einflussreichen Wirtschaftsführern geknüpft, während ihre Intellektuellen-Riege die Gruppeninteressenpolitik in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen gestellt habe. Die ehemals linke Arbeiterklasse habe begonnen, für rechte Parteien zu votieren. Vergleichbares sei auch in Ungarn passiert, wo die Linke die Unterstützung ihrer ehemaligen Arbeiterklassenbasis verloren habe und die ländlichen Gebiete massiv für den Fidesz gestimmt hätten. Es dürfte sehr lange dauern, bis sich die Opposition in eine Kraft verwandelt haben werde, die das Land entscheidend verändern könne, so Lakatos abschließend.

In Heti Vlággazdaság argumentiert der Soziologe Imre Kovách, dass die Menschen in den ländlichen Gebieten nicht nur aufgrund der Regierungspropaganda für die Regierung gestimmt hätten. Vielmehr seien zwei wichtige Schichten der Landbevölkerung der Meinung gewesen, ein solches Wahlverhalten läge in ihrem besten Interesse. Bei einer dieser Schichten handele es sich um neue lokale Eliten, in denen sich Unternehmer, örtliche Meinungsbildner sowie Intellektuelle zusammenschlössen, um regionale Identitäten zu pflegen und zu fördern. Der eine und von ihnen am meisten hochgehaltene Wert sei – glaubt man soziologischen Untersuchungen – die Stabilität. Offenbar seien sie zu der Schussfolgerung gelangt, dass die Regierung von Ministerpräsident Orbán tatsächlich ein Garant dieser Stabilität wäre.
Andererseits könne die große Gruppe „zerrütteter“ ungarischer Mitbürger mit ihren zerrissenen familiären und sozialen Netzwerken ausschließlich auf die Hilfe von Kommunen und staatlichen Behörden zählen. Das habe es der Regierung leicht gemacht, sie in ihr Lager zu lotsen. Ungarische Soziologen hätten deutliche Verschiebungen innerhalb der politischen Orientierungen festgestellt, so Kovách. Demnach existiere nur noch ein zu vernachlässigender Zusammenhang zwischen sozialem Status und politischer Präferenz. Infolgedessen sei die Rolle fähiger politischer Führungskräfte beim Aufbau einer Stammwählerschaft wichtiger denn je geworden. Der Fidesz sei aber die einzige Partei in Ungarn, die über eine solche Führungspersönlichkeit verfüge, notiert Kovách.

Bálint Magyar (einst liberaler Parteichef und Bildungsminister in zwei verschiedenen linksliberalen Regierungen in den 1990er und 2000er Jahren) sowie sein 25-jähriger Koautor, der Wirtschaftswissenschaftler Bálint Madlovics, behaupten, der Wahlsieg und die daraus resultierende Zweidrittelmehrheit des Fidesz sei auf eine Reihe von ungesetzlichen Handlungen seitens der Regierung zurückzuführen. In Magyar Narancs räumen die Autoren ein, dass die Hauptverantwortung für das Wahlresultat bei der Opposition liege.
Allerdings glauben sie auch, dass die gegen Migranten gerichtete Kampagne der Regierenden auf eine ethnisch motivierte Hetze hinauslaufe, die öffentlich-rechtlichen Medien voreingenommen gewesen seien und die Regierung politische Feldzüge geführt habe – ein Verstoß gegen das Wahlkampffinanzierungsgesetz. Schließlich werfen Magyar und Madlovics dem Generalstaatsanwalt vor, blind für mutmaßliche Korruptionsfälle zu sein. In ihrer Schlussbemerkung addieren sie alle nicht für die Regierungsparteien abgegebene Stimmen zusammen und erklären, dass sie etwas mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen repräsentieren würden. Das sei ein Beleg für die durchaus existierende Möglichkeit, die Regierung in Zukunft einmal abzuwählen.

Im Wochenmagazin Demokrata weist Chefredakteur András Bencsik Unterstellungen zurück, wonach die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn schwer angeschlagen sei. Als Beispiel nennt er Vorwürfe internationaler Kontrollorganisationen, die das Land in der Rangliste der Pressefreiheit herabgestuft haben. (Kurz vor Veröffentlichung des aktuellen Rankings waren zwei oppositionelle Medien durch ihren Eigentümer eingestellt worden – Anm. d. Red.) Pressefreiheit bedeutet laut Bencsik, dass jeder seine Meinungen frei drucken oder senden könne. Hinsichtlich der Möglichkeit für Ungarn, sich mit unterschiedlichen Ansichten über alle möglichen Themen vertraut zu machen, behauptet Bencsik, dass Ungarn besser dran sei als viele fortgeschrittene Länder – einschließlich Deutschland, das „unter einer linksliberalen Medien-Walze leidet“.

In Figyelő macht Csaba Szajlai auf einen oft vergessenen Faktor beim Wahlsieg der Regierung vor einem Monat aufmerksam. So habe Ungarn in den letzten vier Jahren ein drei- bis vierprozentiges Wirtschaftswachstum erzielt, wobei auch die Realeinkommen in den zurückliegenden beiden Jahren zweistellig gestiegen seien. Die vielen Dutzende von mit EU-Konvergenzmitteln errichteten Wellnesshotels seien an Wochenenden überbucht, Parkplätze rund um die Hypermärkte in der Umgebung von Budapest während der Öffnungszeiten mit Autos zugeparkt. Während das Wirtschaftswachstum noch bis vor wenigen Jahren von ausländischen Investitionen und multinationalen Unternehmen getragen worden sei, stellten mittlerweile der Tourismus, die Bauindustrie sowie die Landwirtschaft die wichtigsten Antriebskräfte dar, die im ersten Quartal 2018 gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von fünf Prozent verzeichnet hätten.

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