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Orbáns „illiberale Demokratie“ im Spiegel der Wochenzeitungen

4. Aug. 2014

In ihren Kommentaren zur Rede des Ministerpräsidenten im rumänischen Băile Tușnad (Tusnádfürdő) vom 26. Juli werfen linksliberale Wochenzeitungen Viktor Orbán vor, offen für eine Diktatur anstatt für eine westliche Demokratie einzutreten. Regierungsfreundliche Analysten meinen hingegen, die Rede werde von den Linken entstellt.

Der Ministerpräsident habe politischen Liberalismus in Ungarn erfolgreich diskreditiert, räumt Tamás Mészáros in seinem Wochenleitartikel für 168 Óra ein, dennoch sei er international nach wie vor relevant. Der Autor unterscheidet liberale Politik auch vom Liberalismus als Ideologie und von liberaler Demokratie als einem Regierungssystem, das seiner Meinung nach in westlichen Gesellschaften eine wesentliche Rolle spiele. Fortgeschrittene Demokratien, argumentiert er, seien ausnahmslos alle liberal. Mészáros glaubt deshalb, dass eine illiberale Demokratie nicht demokratischer sein kann, als es das diktatorische Regime der DDR dereinst gewesen sei. Er fragt sich, warum der Ministerpräsident mit dieser, wie er es nennt, offenen Ablehnung der Demokratie an die Öffentlichkeit gegangen sei, hätte er doch wissen müssen, was für einer internationalen Kritik er sich damit ausliefere. Mészáros vermutet, dass die Anhänger vom äußerst rechten Flügel, „die den nationalistischen Vorstoß des Fidesz enthusiastisch unterstützt hätten, mittlerweile nur noch durch den offenen Abbau von Demokratie zufriedengestellt werden können“.

Die Rede des Ministerpräsidenten sei ein „Eingeständnis“ – nämlich das seiner – vermeintlich – antidemokratischen Absichten. Folgerichtig trägt der Leitartikel von Magyar Narancs (Druckausgabe) diese Überschrift. Die Autoren werfen ihm Respektlosigkeit gegenüber den unveräußerlichen Rechten anderer Menschen in dem Glauben vor, Demokratie ließe sich auf periodisch abgehaltene Wahlen beschränken. Auch würde er nicht einmal vor der Manipulation dieser Wahlen zurückschrecken. Die Autoren definieren Orbáns Ziel als den Versuch, die Exekutive von all ihren Beschränkungen zu befreien und nennen seinen Staat, der auf „Sozialfürsorge mit Pflicht zur Arbeit“ bzw. „auf Arbeit gründet“ einen „Extra-Anklang an den Faschismus“. Magyar Naracs wirft Orbán vor, China, Russland, Indien, Singapur oder die Türkei als alternative Regierungsmuster zu betrachten. Versuche, „Ungarn dem despotischen Russland anzunähern“, vergleichen die Autoren mit der vom kommunistischen Diktator Mátyás Rákosi in den frühen 50er Jahren betriebenen Politik. Dagegen habe János Kádár, der kommunistische Parteichef nach 1956, das Land zum Ende seiner Herrschaft „in die entgegengesetzte Richtung“ führen wollen. Für Magyar Narancs ist klar: „Viktor Orbán will Krieg und jeder andere sollte sich besser fragen, wie man ihn daran hindern könne, das zu bekommen, hinter dem er her sei.“

In einem von zwei Kommentaren, die Élet és Irodalom dem Thema widmet, interpretiert Herausgeber Zoltán Kovács die Bemerkung des Ministerpräsidenten über eine vom US-Repräsentantenhauses an dessen Vorsitzenden erteilte Vollmacht, der zufolge er den Präsidenten wegen Amtsmissbrauchs verklagen möge, als „lautes Auflachen, während ihn gleichzeitig seine eigene Immunität vor Strafverfolgung bewahre“. (Orbán hatte geäußert, der Präsident der Vereinigten Staaten könnte nach einer Verurteilung im Amt bleiben, er hingehen nicht, wenn er vom Parlament verklagt werden könnte – Anm. d. Red.). Laut Kovács wandle sich der Ministerpräsident Stück für Stück in einen Diktator und vernünftige Leute würden nach und nach aus seinem Team verschwinden. Er verurteilt diejenigen jungen Analysten, die der Öffentlichkeit enthusiastisch erklärten, dass es nur um die Wirtschaft ginge, wenn der Ministerpräsident von Illiberalismus rede, sein System hingegen weiterhin eine Demokratie bleiben würde. Kovács glaubt, dies sei Nonsens, denn wenn die Wirtschaft einmal aufhören würde, liberal zu sein, würden die Möglichkeiten des Denkens und Handels unweigerlich eingeschränkt werden.

In einem weiteren ganzseitigen Beitrag für Élet és Irodalom über die Strategie des Ministerpräsidenten nennt der Soziologe und ehemalige liberale Staatssekretär György Csepeli die Rede des Ministerpräsidenten ein „einzigartiges Meisterstück“, obgleich es nur die Gläubigen mitreiße. Er betrachtet die Verurteilung des Liberalismus als das wichtigste „psychopharmakologische“ Element im Auftritt des Ministerpräsidenten und erklärt, dass der Redner mit der Ablehnung des freien Marktes samt aller seiner Unwägbarkeiten dem Publikum Schutz und Sicherheit angeboten habe. Da aber kein äußerlicher Zwang vorhanden sei, dies in Ungarn durchzusetzen, werde „die Blase irgendwann zerplatzen“ und „die Gesellschaft wird wieder zu sich selbst finden“, ist Csepeli überzeugt.

Auch die Druckausgabe von Heti Válasz widmet der Rede des Ministerpräsidenten zwei Artikel, darunter einen Leitartikel von Gábor Borókai, der sich wundert, warum es Ungarn in den letzten 25 Jahren nicht fertiggebracht habe, eine „Aufwärtsbewegung“ zu vollziehen, wenn doch der Liberalismus die beste Form der Regierung sei. Warum, fragt er stattdessen, habe linksliberale Regierungsarbeit Ungarn an den Rand des Bankrotts gebracht? Ministerpräsident Orbáns Konzept eines „Arbeitsdienststaates“ könne Kritik ausgeliefert sein, jedoch müsse auf jeden Fall entweder der liberalen Demokratie oder der vor 2010 herrschenden Elite ein Ende bereitet werden. Oder beidem. „Denn diese beiden gemeinsam sind eine sichere Garantie für das Scheitern.“

In einer detaillierten Analyse der Rede und der Reaktionen von Kritikern merkt András Stumpf in derselben Wochenzeitung an, dass sich mehrere der von Viktor Orbán in Băile Tușnad geäußerten Thesen bereits in früheren bis ins Jahr 2003 zurückzudatierenden Stellungnahmen finden ließen. Auch sei eine „Öffnung nach Osten“ keine Neuheit, sei sie doch schon seit Jahren Teil der Regierungspolitik. Der Ministerpräsident habe tatsächlich die Türkei, Indien, China, Singapur und Russland erwähnt, „nicht aber dazu aufgerufen, das Putin-Modell zu kopieren“. Er habe über das „Verstehen“ und nicht das Kopieren der verschiedenen von diesen Ländern verwendeten Systeme gesprochen, erklärt Stumpf. Auch verweist er darauf, dass Kritiker ausnahmslos die Versicherung Orbáns übergingen, wonach ein Zukunftsmodell „in vollem Respekt gegenüber den Werten des Christentums, der Freiheit und der Menschenrechte“ gesucht werden sollte.  Mit Blick auf Wladimir Putin zitiert Stumpf aus Orbáns Rede in Siebenbürgen. Demnach wolle Ungarn vermeiden, dass Russland „vom westlichen Entwicklungskurs“ abdrifte. Eine „Öffnung zum Osten“ sei Ausdrucks des politischen Realismus und weniger ideologischer Natur. Dass die berühmte Rede fehlerlos gewesen sei, glaubt Stumpf indes nicht. Regierungskritische, aus ausländischen Quellen unterstützte NGOs zu verurteilen sei im Hinblick auf den geringen Umfang der Finanzierungen und die wenigen Tausend Menschen, die von ihnen erreicht werden könnten, unverhältnismäßig. Der Autor fragt, inwiefern diese NGOs eine ernst zu nehmende Hürde bei der Ausprägung einer neuen Regierungsform darstellen könnten. Ebenso wenig glaubt er, dass sich Menschen aufgrund des Liberalismus massiv in Fremdwährungen verschuldet hätten. Österreich zum Beispiel habe seine Bürger vor Fremdwährungsschulden schützen können. Insgesamt empfindet es Stumpf als Hauptproblem, dass der Ministerpräsident nicht ausgeführt habe, was genau er unter einer liberalen Demokratie überhaupt verstehe und „vor allem, wie das System, durch das er sie ersetzen wolle, aussehen wird“.

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