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Regierungsbilanz des Jahres eher im roten Bereich

22. Dec. 2014

Kommentatoren aller politischer Couleur sind sich einig: Nach den drei problemlos gewonnenen Wahlen dieses Jahres ist die Regierung nunmehr gänzlich unerwartetem Druck ausgesetzt. In ihren Jahresendausgaben gehen die Wochenmagazine davon aus, dass die regierenden Kräfte aufgrund ihrer eigenen Versäumnisse in die Bredouille geraten sind, obgleich äußerer Druck ebenfalls zu den Ursachen gerechnet wird.

In seinem Leitartikel für Heti Válasz spricht sich Gábor Borókai dafür aus, dass die Regierung vor umstrittenen Entscheidungen häufiger Experten sowie die Öffentlichkeit konsultiert. In den vergangenen vier Jahren habe die Regierung häufig rasch agiert, um eine Finanzkrise abzuwenden und eine Reihe öffentlicher Institutionen umzuorganisieren. In der Folge hätten sich die makroökonomischen Indikatoren deutlich verbessert. Die Bevölkerung habe ihre Zustimmung mittels Wiederwahl des Fidesz mit erneuter parlamentarischer Zweidrittelmehrheit bekundet. Danach habe die Partei komfortable Mehrheiten sowohl bei den Europa- als auch den Kommunalwahlen erringen können, stellt der Autor fest. Im Folgenden bestreitet Borókai nicht, dass möglicherweise weitere Reformen anstehen. Allerdings könnte ein König rascher Entschlüsse – in Notsituationen nützlich – sich unter normalen Bedingungen selbst ein Bein stellten.
Der Autor zitiert Ministerpräsident Viktor Orbán, der kürzlich Journalisten gegenüber gesagt hatte, „die Stringenz von Konsultationen“ sei für die Politik von entscheidender Bedeutung. „Worte und Taten sind schlecht aufeinander abgestimmt“, stellt der regierungsfreundliche Kommentator fest. Eine Serie hastig gefällter Entscheidungen habe nicht die vom Regierungschef erwähnte „Stingenz der Konsultationen“ offenbart. Dazu gehörten die gescheiterte Internetsteuer, die Idee von Drogentests für Politiker und Journalisten sowie die auf städtische Umgehungsstraßen erweiterte Autobahn-Maut. Die Öffentlichkeit fühle sich von Tag zu Tag schlechter, warnt Borókai. Die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest sei ein guter Zeitpunkt, um zu lernen und aufeinander zu achten.

Die Fidesz-Regierung mache sich zu viele Feinde, glaubt Chefredakteur Gábor Lambert in Figyelő. Deswegen sei das System im Vergleich zu den Zeiten instabiler, in denen die makroökonomischen Indikatoren im Minus waren, die öffentliche Verschuldung ihren Höhepunkt erreicht hatte, das BIP sank und die Beschäftigungsquote zu den europaweit niedrigsten gehörte. Mittlerweile hätten sich alle diese Indikatoren verbessert und selbst die pessimistischsten Beobachter würden einräumen, dass das BIP-Wachstum nach Überschreiten der Marke von drei Prozent 2014 im kommenden Jahr über zwei Prozent betragen werde. Einer der Gründe dafür liege allerdings in einer Reihe von Maßnahmen zur Senkung der Ausgaben von Privathaushalten auf Kosten multinationaler Einzelhandelsketten und öffentlicher Versorgungsunternehmen. Die Frage laute, was diese ausländischen Investoren künftig unternehmen würden. In Anspielung auf János Lázár, den für das Amt des Ministerpräsidenten zuständigen Minister, hält es der Autor für ungewöhnlich, dass ein Politiker ein so enormes Maß an Entscheidungskompetenz in seinen Händen konzentriere.
Einerseits habe er das Volumen von EU-Geldern erhöhen können, die in kommunal geförderte Programme flössen. Andererseits werde er zur Regierung in der Regierung, wobei sich Berge von entscheidungsnotwendigen Akten auf seinem Schreibtisch bis zu dem Tage auftürmen würden, an dem sie möglicherweise einstürzen und eine erneute Umstrukturierungswelle auslösen. Lambert glaub zudem, dass man sich über das Abkommen mit Russland zur Erweiterung des AKW Paks hätte intensiver beraten sollen. Summa summarum: Während sich die Regierung mit der Umstrukturierung politischer Institutionen beschäftigt habe, sei sie einer diskreditierten und unpopulären Opposition gegenübergestanden und während sie ihre Wirtschaftspolitik umsetze, habe sie es mit alten Kampfgenossen zu tun – womit der Autor auf innerparteiliche Kritiker anspielt – die führende Fidesz-Politiker wegen „Protzerei“ mit ihrem Reichtum tadeln. Darüber hinaus könnten auch die ausländischen Investoren verunsichert werden. Lambert kritisiert die Regierung sowohl dafür, dass sie sich an die „Merkel-Putin-Achse“ anhefte, als auch für ihre seiner Ansicht nach „katastrophale Rhetorik in Sachen Außenpolitik“. Drei aufeinander folgende Wahlen hätten gezeigt, dass keine brauchbare politische Alternative zur aktueller Regierung existiere. Doch hätten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre viele Menschen die Zukunft in ähnlicher Art und Weise betrachtet, als sie der Kommunistischen Partei in deren letzten Herrschaftsjahren beigetreten seien.

Balázs Váradi glaubt, Ungarn isoliere sich innerhalb des westlichen Bündnisses selbst, was sich als verhängnisvoll für die Regierungspartei erweisen könnte. In Magyar Narancs räumt der Autor ein, die Nato sei in Sachen Demokratie nicht übermäßig empfindlich, wenn es um loyale Verbündete wie etwa das in den 1960er und 70er Jahren von einer Militärdiktatur beherrschte Griechenland gehe. Wenn aber Ungarn eine aufsehenerregende russlandfreundliche Außenpolitik betreibe, könnte es sich massive Sanktionen einhandeln. Selbst innerhalb der Europäischen Union könnten Konflikte aufbrechen, was verheerend wäre, da die ungarische Wirtschaft zu den offensten innerhalb Europas gehöre, wobei der Löwenanteil der Aus- und Einfuhren mit westlichen Demokratien abgewickelt würde.
All dies bedeute nicht, dass die Regierung dieser Tage stürzen werde. Weder würden Nato-Flugzeugträger die Donau hinauffahren noch werde die EU die ungarische Mitgliedschaft suspendieren oder der Chef der Christlich-Demokratischen Partei, Zsolt Semjén, vom Papst exkommuniziert. Doch sei Ungarn weder die Republik Moldau noch Georgien. Die westlichen Demokratien würden langsam aber sicher ihren Druck erhöhen. Dennoch werde niemand den Kampf „an unserer Stelle“ ausfechten, meint der liberale Autor. Was auf die aktuelle Regierung folgen werde, könnte sich zudem als kaum besser entpuppen, warnt Váradi.

Auch András Bencsik glaubt, dass die Vereinigten Staaten die gegenwärtige Regierung in Ungarn destabilisieren könnten. In Demokrata äußert er gar die Befürchtung, dass „ein blutiger Staatsstreich oder zumindest Unruhen mit umgestürzten Autos, Steinewerfern, zerbrochenen Schaufensterscheiben und ähnlichem“ organisiert werden könnten, und zwar „mit Hilfe von US-Geheimdiensten“. Allerdings hält der Autor dies für ein unwahrscheinliches Szenario, da, wie er sich ausdrückt, „wir in Frieden leben“. Allerdings gebe es da einen erheblichen Medienwirbel um „einige ungewöhnlich talentierte Fidesz-Leute, die reich geworden sind“, denn die Menschen hätten eine Tendenz zum Neid, solange der Wohlstand nicht überall gleich verteilt sei. Deswegen habe der letzte Monat des Jahres „einen sauren Beigeschmack bekommen“ und sei angefüllt mit Gefühlen der Angst. Genau aus diesem Grunde würden er und die anderen Organisatoren der vergangenen regierungsfreundlichen Friedensmärsche wenn nötig wieder marschieren und „Ungarn erneut verteidigen“, versichert Bencsik seinen Lesern.

In Magyar Hírlap warnt János Zila die Regierung, sie solle die Demonstrationen der vergangenen Wochen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sowohl wäre es ein Fehler anzunehmen, die Regierung werde demnächst stürzen, aber auch zu glauben, es sei nichts passiert. Angesichts des plötzlichen Umfragetiefs der Regierung stehe der Fidesz vor verschiedenen Herausforderungen. Eine davon stamme aus dem Ausland, vor allem aus der amerikanischen Botschaft und von amerikanischen Politikern, was wichtig sei, denn sie repräsentierten die westliche Welt, nach deren Zugehörigkeit sich die Ungarn jahrzehntelang gesehnt hätten. Ein weiterer wichtiger Akteur sei der Fernsehsender RTL Klub, der sich seit der Einführung der Werbesteuer im vergangenen Sommer zum scharfen Kritiker der Regierung gewandelt habe. Schließlich existierten zahlreiche unterschiedliche Gruppen von Menschen, die gegen die Regierung gerichtete Demos organisiert hätten und nicht nur die Regierung sondern auch die Opposition kritisieren würden.
Der Fidesz könne sich glücklich schätzen, dass zu seinen Gegnern keine Oppositionspartei gehöre, die diese Unzufriedenheit bei sich einbinden könne. Die nächsten Wahlen fänden 2018 statt. Bis dahin müsste die Regierung etwas unternehmen, um das Sinken ihrer Umfragewerte zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Falls sie verhindern könne, dass sich negative Denkmuster „in die Gehirne der Wähler einbrennen“, könnte es ihr noch immer gelingen, die verlorengegangene Unterstützung zurückzugewinnen, schlussfolgert Zila.

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