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Demokratie verschlingt ihre Mittelklasse

20. Jan. 2014

Ein Soziologe sieht den Populismus in Mittelosteuropa auf dem Vormarsch. In Ungarn, so seine Argumentation, sei die Mittelklasse während des Übergangs zur Marktwirtschaft geschwächt worden und deshalb schutzlos dem wachsenden gegen den Markt gerichteten Populismus ausgesetzt.

Die Mittelklasse sei strukturell zu schwach, um gegen den Populismus vorzugehen, schreibt der Soziologe Pál Tamás in Élet és Irodalom. Der demokratische Wandel 1989 sei von der Mittelklasse initiiert worden und in den ersten Jahren des Übergangs sei sie tatsächlich Nutznießerin der freien Institutionen und der Marktwirtschaft gewesen. Zusätzlich zur Ausübung grundlegender bürgerlicher und demokratischer Rechte konnte sie frei reisen, ihre Kinder auf Universitäten in Westeuropa und Nordamerika schicken und sich eine bessere Gesundheitsvorsorge leisten, während weniger privilegierte Ungarn unter dem Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft gelitten hätten. In der Mitte der 1990er Jahre, schreibt Pál, hätten die Interessen der Mittelklasse im Fokus sowohl der linken als auch der rechten Parteien gestanden. Dessen ungeachtet hinke der Lebensstandard der Mittelklasse in Ungarn und anderen Staaten Mittelosteuropas weiter hinter dem in Westeuropa gewohnten Niveau hinterher. „Die Herrschaft der Mittelklasse“ habe sich als kurzlebig erwiesen. Als Ergebnis der Deindustrialisierung sei auch die Mittelklasse von Arbeitslosigkeit betroffen, merkt Tamás an. In Ungarn suchten ausländische Investoren billige Arbeitskräfte und so existiere ein geringerer Bedarf an besser bezahlten Mittelklasse-Jobs. Viele gebildete Ungarn der Mittelklasse hätten keinen angemessenen Job finden können und sich entschieden, in entwickeltere Länder mit besseren Arbeitsmöglichkeiten zu ziehen. Als Ergebnis habe die ungarische Mittelklasse sowohl an Gewicht als auch an Durchhaltevermögen verloren. Ähnliche Prozesse hätten sich auch in anderen postkommunistischen Ländern abgespielt. Vor diesem Hintergrund sei es keine Überraschung, dass Politiker in Mittelosteuropa – einschließlich Ministerpräsident Orbán – eine breite Anhängerschaft hinter sich versammelten, indem sie auf eine populistische Anti-Markt-Rhetorik zurückgriffen, schließt Tamás seine Analyse.

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