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60 Jahre 56

24. Oct. 2016

In ihren Artikeln zum sechzigsten Jahrestag streiten die Kommentatoren über die vom ungarischen Volksaufstand 1956 an heutige Generationen ausgehende Botschaft.

„Konservative und Linke streiten sich schon seit den ersten Monaten der 1990 wiedererrichteten ungarischen Demokratie über das Erbe der Revolution des Jahres 1956“, konstatiert der Historiker János M. Rainer in Heti Világgazdaság. Die bei den ersten freien Wahlen siegreichen Konservativen hätten den Namen des reformkommunistischen Ministerpräsidenten Imre Nagy unerwähnt gelassen, als sie der Revolution in einem symbolhaften Akt gedachten. Rainer wirft den gegenwärtig Regierenden vor, sie würden den Namen Imre Nagy in ihrer Geschichtsschreibung als Störfaktor empfinden – einer Geschichtsschreibung, in der von einem antikommunistischen Aufstand die Rede sei, obgleich doch linke Kräfte darin eine wichtige Rolle gespielt hätten. Die heutigen Ungarn betrachteten das Jahr 1956 als eine stürmische Zeit, denn sie würden sie durch den Filter der Stabilität der Kádár-Ära sowie der Zerrissenheit der Nach-1990er-Periode sehen, notiert Rainer abschließend.

Sándor Faggyas dagegen sieht die Dinge gänzlich anders. So habe bis 2004 unter den rivalisierenden politischen Kräften durchaus Einigkeit hinsichtlich der Bedeutung von 1956 geherrscht. Dann aber, so Faggyas in Magyar Hírlap, hätten Ferenc Gyurcsány und István Hiller ihre Absicht bekundet, die Revolution von den Rechten „zurückzuerobern“. In der Folge seien am Jahrestag 2006 die Behörden brutal gegen friedliche Demonstranten vorgegangen. Der Autor wirft der „winzigen Partei“ von Ferenc Gyurcsány „und deren extremistischen Verbündeten“ vor, sie würden diese Strategie mit der von ihnen geplanten Störung der offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag weiterverfolgen. (Die DK sowie die MSZP hielten am Sonntag eine separate Kundgebung ab, während Péter Juhász, der stellvertretende Vorsitzende der Partei „Gemeinsam“ [Együtt], aus Protest gegen die Regierungspolitik während der offiziellen Feierlichkeiten ein Pfeifkonzert anstimmen ließ – Anm. d. Red.) Faggyas verurteilt die MSZP zudem, weil sie sich als einzige mit einer Fraktion im Parlament vertretene Partei geweigert hatte, anlässlich des Jahrestages eine gemeinsame Erklärung zu unterzeichnen.

Népszava-Autor Péter Somfai nimmt sich den Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, zur Brust. (Balog hatte Vergleiche zwischen aktuellen Auswanderungsbewegungen und dem westwärts gerichteten Strom ungarischer Flüchtlinge im Jahre 1956 zurückgewiesen. Vor einem deutschen Publikum hatte der Superminister darauf hingewiesen, dass 1956 Massen an Ungarn ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen ihrer Heimat vor kommunistischer Unterdrückung geflohen seien. Heutzutage dagegen fänden viele Ungarn besser bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der Europäischen Union, als deren gleichberechtigte Mitbürger sie sich verstehen könnten – Anm. d. Red.)
Péter Somfai erinnert daran, dass die 1956 geflohenen Ungarn eine äußerst schmerzliche Entscheidung hätten treffen müssen, als sie ihr Land und ihre Verwandten zurückließen, um andernorts ein neues Leben zu beginnen, wo sie hätten als Tellerwäscher anständiger leben können als daheim als Ingenieure oder Lehrer. Doch seien sie dort auch so frei gewesen, um ihr Privatleben ohne Einmischung durch die Behörden zu führen. Dort hätten sie gleiche Chancen gehabt und kein Entscheidungsträger hätte irgendwelche Spezis aus Regierungskreisen bevorzugt. In dieser Hinsicht hätten die heutigen ungarischen Auswanderer „die gleiche Art von Flucht“ unternommen wie ihre Vorgänger des Jahres 1956, befindet Somfai.

In Heti Válasz befasst sich Gábor Borokai mit einem anderen beliebten Vergleich – und weist ihn zurück. Es geht um die Betrachtung der gegenwärtigen Migrationswelle aus Richtung Asien und Afrika Richtung Europa und den ungarischen Exodus vom Jahr 1956. Tatsächlich werde den Ungarn oft zur Last gelegt, sie würden die ihnen vor 60 Jahren seitens des Westens entgegengebrachte Solidarität vergessen, wenn sie eine Aufnahme heutiger Flüchtlinge ablehnten. Borokai bezeichnet diesen Vergleich als eine krasse Fehlinterpretation der Tatsachen. Zunächst: Durch die selbstlose Aufnahme ungarischer Flüchtlinge habe der Westen seine Ohnmacht hinsichtlich der sowjetischen Aggression gegen Ungarn wiedergutzumachen versucht. Zweitens: Jene Ungarn damals seien in begrenzter Zahl geflohen, während hinter den heutigen Migranten Millionen nur darauf warten würden, sich auf die gleiche Reise zu begeben. Der dritte Unterschied liege darin, so Borokai, dass die 1956er Ungarn grundsätzlich mit den westlichen Behörden zusammengearbeitet und, anstatt mehrere Grenzen zu passieren, sie ihre Aufnahme durch einzelne Ländern abgewartet hätten. Der Autor ist davon überzeugt, dass die europäischen Spitzenpolitiker das Ausmaß des Migrationsproblems extrem unterschätzt haben. Doch selbst in Fällen, in denen die ungarische Regierung in der Auseinandersetzung mit ihnen Recht habe, sollte sie niemals auf eigene Faust tätig werden. Ungarn sei auf Verbündete angewiesen, denn – so Borokais Schlussfolgerung unter Verweis auf 1956: „Auf uns selbst gestellt, können wir nur scheitern.“

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