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61. 56er Jahrestag

25. Oct. 2017

Kommentatoren sind sich ganz unabhängig von ihrer politischen Zuordnung einig: Die Opposition habe am Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes von 1956 ein erbärmliches Bild abgegeben. Uneinigkeit hingegen herrscht in der Beurteilung der Rede Ministerpräsident Viktor Orbáns, der am Montag erklärt hatte, dass Ungarn jetzt einmal mehr seine Unabhängigkeit verteidigen müsse.

Auf einer Kundgebung am Budapester Museum „Haus des Terrors“ erklärte Orbán vor mehreren tausend Anhängern: Das Sowjetreich habe Anfang der 1950er Jahre den durchschnittlichen ungarischen Staatsbürger in einen „homo sovieticus“ umwandeln wollen. Heutzutage indessen solle sich der Durchschnittsungar zu einem „homo bruxellicus“ entwickeln.

In einer in extrem bitterer Tonlage verfassten Kolumne entrüstet sich Róbert Friss über die Linksparteien. Sie hätten es nicht einmal fertiggebracht, anlässlich des Jubiläums eine gemeinsame Kundgebung auf die Beine zu stellen, schimpft der Redakteur der linken Tageszeitung Népszava. Für besonders empörend hält Friss die Tatsache, dass die Sozialistische Partei keinerlei klare Vorstellungen von den Ereignissen des Jahres 1956 habe: Während István Ujhelyi, einer ihrer Parlamentsabgeordneten, Orbán mit Mátyás Rákosi, den kommunistischen Diktator der frühen 1950er Jahre, vergleiche, habe Fraktionskollege Tibor Szanyi seinen dem Jahrestag gewidmeten Facebook-Eintrag mit dem Foto eines gelynchten Mitglieds der politischen Polizei bebildert. (MSZP-Chef Gyula Molnár distanzierte sich später von diesem Eintrag – Anm. d. Red.)
Auf die Rede des Ministerpräsidenten eingehend betont Friss, dass die Regierenden nichts mit 1956 gemein hätten. Der linksorientierte Publizist beklagt das von den meisten Ungarn gezeigte politische Desinteresse. Ursache dafür seien ihre Probleme mit dem alltäglichen Auskommen. „Wir sollten das Jahr 1956 vorerst besser vergessen“, empfiehlt Friss, hofft jedoch auch darauf, dass die Leute eines Tages die Wut ergreife und sie unversehens eine Revolution anzetteln würden.

Auch Zsolt Bayer sieht in einem Beitrag für Magyar Idők die Linke verwirrt – und zwar sowohl hinsichtlich der Geschehnisse von 1956 wie auch mit Blick auf die Regierung: Vor dem ehemaligen Wohnhaus von Imre Nagy, dem im November 1956 von sowjetischen Soldaten entführten und 1958 in Ungarn hingerichteten Ministerpräsidenten, habe die sozialistische Abgeordnete Ágnes Kunhalmi in einer Rede vor einer zweiköpfigen „Menge“ Regierungschef Orbán mit Stalin verglichen. Gleichzeitig habe ein während der Ansprache Orbáns protestierender „15 Personen umfassender Haufen“ linker Demonstranten ihn als einen neuen Hitler bezeichnet. Bayer pflichtet der Feststellung Orbáns bei, wonach 2017 und 1956 etwas verbinde – nämlich dass die nationale Unabhängigkeit und Identität auf dem Spiel stünden. Osteuropa sei die einzig noch verbliebene „migrantenfreie Zone“ in Europa, schreibt er und zitiert dabei Worte des Ministerpräsidenten. „Dieser Idealzustand muss wie nichts anderes bewahrt werden.“ Zu diesem Zweck müssten sich die Leute einfach an den Parlamentswahlen des kommenden Jahres beteiligen, im Gegensatz zu 1956, als man habe zu den Waffen greifen müssen, erklärt Bayer.

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