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Straßburg markiert neues Zeitalter

17. Sep. 2018

Die Kommentatoren beurteilen die Auseinandersetzung zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seinen Gegnern im Europäischen Parlament extrem unterschiedlich. Einvernehmen herrscht jedoch darüber, dass der Vorgang in Straßburg ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Ungarn und der Europäischen Union eröffnet.

In ihrem regelmäßigen Leitartikel für das Wochenmagazin Heti Világgazdaság verweist Ibolya Jakus auf die nunmehr zu entscheidende Frage: Könne es dem ungarischen Ministerpräsidenten, der sich als Hauptgegner des zentristischen Präsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron, positioniere, gelingen, als Anführer „populistischer und gegen Flüchtlinge auftretender Kräfte“ anerkannt zu werden? Darüber hinaus gehe es darum, ob Orbán in der Volkspartei bleiben oder er sich zum Protagonisten des euroskeptischen Lagers entwickeln werde. Noch wichtiger sei, so Jakus weiter, ob Europa möglicherweise nach (ganz) rechts rücken könnte. Mit gewisser Erleichterung blickt die Kolumnistin nach Schweden, wo bei den jüngst abgehaltenen Parlamentswahlen 80 Prozent der Wähler für traditionelle gemäßigte Parteien gestimmt hatten.

In seiner aggressiv-wütenden Kolumne auf der Titelseite von Élet és Irodalom begrüßt István Váncsa die „verspätete Reaktion der Mitglieder des Europäischen Parlaments“, die sich endlich aufgerafft und in einer Art und Weise ausgedrückt hätten, die der Kommentator für mehr oder weniger realitätskonform hält. Allerdings decke das von ihnen verabschiedete Dokument lediglich „einen kleinen Teil der Missetaten der Orbán-Ära“ ab. Dessen ungeachtet begrüßt Váncsa „dieses große Ereignis“. Schade nur, fährt er fort, dass es jetzt zu spät sei, da der westliche Teil Europas sowohl intellektuell als auch moralisch zunehmend auseinanderfalle.

Das Ungarn letzte Woche im Europäischen Parlament verurteilende Gebrüll sei von der Angst der alten herrschenden Elite ausgegangen. Diese Elite, so Mariann Őry in Magyar Hírlap, fürchte den Verlust von Einfluss und wolle die aufstrebenden Kräfte stoppen. Mögen die Europawahlen im nächsten Jahr das Kräfteverhältnis im Europäischen Parlament nachhaltig verändern. Őry ist überzeugt, dass die aktuelle Mehrheit die europäischen Wähler längst nicht mehr repräsentieren würde. Es sei an der Zeit, den politischen Diskurs in Europa und dann Europa selbst zurückzuerobern, schreibt die Kommentatorin. Andernfalls würden neue Bevölkerungsgruppen in Europa einmarschieren und dabei weder den Liberalen noch den Christdemokraten, die letzte Woche gegen Ungarn gestimmt hätten, Raum lassen.

Die Historikerin Mária Schmidt wiederum erkennt hinter den Ereignissen im Europäischen Parlament ein deutsches Streben nach einer Beherrschung Europas. Bundeskanzlerin Merkel, so Schmidt in ihrem Blog Látószög, wolle sich mit einer kontinentalen Einkreisung vom politischen Druck in ihrer Heimat befreien. Aus diesem Grund hätten die meisten aus Deutschland stammenden christdemokratischen Abgeordneten des Europaparlaments für die Resolution zur Bestrafung Ungarns gestimmt. Der französische Präsident Macron begeht laut Schmidt einen großen Fehler, wenn er in Ministerpräsident Orbán einen Gegner sieht. Beide hätten nämlich ein gemeinsames Interesse, zu verhindern, dass Europa durch Deutschland regiert werde. Die Chefin des Budapester Museums „Haus des Terrors“ räumt ein, dass die Abstimmung in Brüssel ein großer Sieg für Merkel gewesen sei. Doch, so Schmidt unter einem spöttischen Hinweis auf die Geschichte: „Die Deutschen waren gut darin, Schlachten, aber schlecht darin, Kriege zu gewinnen.“

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