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Heftiger Streit um schulische Segregation von Roma-Kindern

13. Jan. 2020

Liberale und linke Kommentatoren legen Ministerpräsident Viktor Orbán Rassismus zur Last, weil er sich kritisch über die gerichtlich bestätigte Entschädigung von Roma-Familien geäußert hatte, deren Kinder ethnisch getrennten Klassen zugeordnet wurden. Regierungsnahe Kolumnisten dagegen pflichten Orbán bei und bezeichnen das entsprechende Gerichtsurteil als empörend.

In zweiter Instanz hatte sich ein Berufungsgericht der ostungarischen Stadt Debrecen gegen die Segregation von Roma-Schülern in der Gemeinde Gyöngyöspata ausgesprochen. Die Kammer sprach den Familien von 66 der Roma-Minderheit angehörenden und zum Besuch von eigenen Klassen gezwungenen Schülerinnen und Schülern insgesamt 99 Millionen Forint (rund 300.000 Euro) zu, um sie für die offenkundige Diskriminierung sowie die geringere Qualität ihres Unterrichts zu entschädigen. Der für den Wahlkreis zuständige Fidesz-Parlamentsabgeordnete László Horváth beschuldigte die Roma-Familien samt Nichtregierungsorganisationen, die den Fall vor Gericht gebracht hatten, Agenten des „Soros-Netzwerks“ zu sein. Das Gerichtsurteil werde den sozialen Frieden in der Gemeinde untergraben, so Horváth in einer Stellungnahme. Auf einer am Donnerstag abgehaltenen Pressekonferenz (siehe BudaPost vom 11. Januar) behauptete Regierungschef Orbán, dass das Urteil nicht im Einklang mit dem Gerechtigkeitsempfinden der örtlichen Bevölkerung stünde, da die Roma-Familien ohne harte Arbeit große Geldsummen erhalten würden. Weiter erklärte Orbán, wenn Menschen nicht wegen ihrer Hautfarbe, sondern wegen der besonderen Anforderungen an ihre Beschulung in speziellen Klassen unterrichtet würden, sei dies kein realer Fall ethnischer Segregation. Die Entscheidung des Gerichts in Debrecen ist zwar rechtlich bindend, dennoch wurde der Fall zur Überprüfung an die Kurie (den Obersten Gerichtshof Ungarns) verwiesen.

„Dies ist eine beispiellose und offen gegen Roma gerichtete Hetze eines ungarischen Ministerpräsidenten“, lautet die Diagnose von Gábor Miklósi. Auf Index äußert der liberale Kommentator die Ansicht, dass auch Regierungschef Orbán dagegen protestieren würde, falls seine Kinder Opfer von Segregation sein würden. Die Roma-Schüler in Gyöngyöspata würden minderwertiger beschult, hätten keinen Zugang zu schulischen Sportanlagen erhalten und würden bei außerschulischen Veranstaltungen und Ausflügen nicht willkommen sein, beklagt Miklósi und hält die Behauptung, dass Familien von diskriminierten Roma-Kindern keine finanzielle Entschädigung verdienen würden, für besonders geschmacklos.

Auch Judit Kósa von der Tageszeitung Népszava haben die Worte des Ministerpräsidenten empört. Die linke Kommentatorin bezeichnet die Äußerungen Orbáns als ausgesprochen rassistisch, ja sogar „nazistisch“. Für Kósa kann keine Entschädigung den Schaden wiedergutmachen, der aufgrund einer nicht angemessenen Schulbildung entstehe. Die Autorin äußert die Befürchtung, dass die Worte des Ministerpräsidenten die Ungarn dazu verleiten würden, nicht nur Migranten, sondern auch „innere Feinde“ – die Roma – zu hassen.

Auf Mandiner gibt Mátyás Kohán zu Protokoll, dass die Leute, die der Schule in Gyöngyöspata eine rassistisch motivierte Segregation vorwerfen würden, keinen blassen Schimmer von den örtlichen Zuständen hätten. Die Eliten, darunter er selbst, hätten kein Recht, vor Ort tätige Lehrer sowie eine auf Segregation beruhende Beschulung zu kritisieren, da sie ihre eigenen Kinder niemals in Schulen auf dem flachen Land schicken würden – Schulen also, in denen benachteiligte Roma in denselben Klassenzimmern und gemeinsam mit Kindern der nicht dem Volk der Roma angehörenden Mittelklasse unterrichtet würden.
Kohán hält es für gerechtfertigt, diesen Roma-Schülern, denen die grundlegenden Schreib-, Lese- und Mathematikkenntnisse fehlen würden, eine getrennte Beschulung anzubieten. Diejenigen – darunter sowohl Nicht-Roma als auch Roma –, die keine besondere Hilfe in den Grundlagen benötigten, würden bei einem Unterricht im gleichen Klassenverband nur aufgehalten.
Kohán behauptet, dass die von segregationskritischen NGOs vertretenen Antidiskriminierungsgrundsätze auf einer „importierten“ amerikanisch-marxistischen Ideologie basieren würden, die auf die Integration schwarzer Kinder ausgerichtet sei. Da sich die Probleme der ungarischen Roma sehr von denen zu Zeiten der Sklaverei unterschieden, könne man nicht dasselbe Rezept anwenden, um die unterschiedlichen Missstände zu beseitigen, notiert Kohán und fügt hinzu: Dadurch, dass ungarische Roma in eine Opferhaltung gedrängt würden, könne eine „importierte Sklavenmentalität“ entstehen.
Was die Entschädigung betrifft, so glaubt Kohán, dass „sie die Schuldigen belohnt“, da das Geld an Familien gehen würde, die nicht in der Lage seien oder auch nicht einmal den Wunsch hätten, ihren Kindern angemessene Lebensumstände zu bieten.

Auch Gergely Szilvay äußert sich auf Mandiner. Er notiert, dass eine spontane Segregation überhaupt gar keine Segregation darstelle. In den USA etwa würden viele schwarze Familien es vorziehen, ihre Kinder statt in gemischte Klassen auf rein schwarze Schulen zu schicken. Getrennte Bildung diene der Erhaltung der kulturellen Identität, behauptet der konservative Historiker und ergänzt, dass die Vermischung verschiedener Kinder Integration und Chancengleichheit nicht leichter machen würde. Eine getrennte Erziehung, wenn sie aus den spontanen Entscheidungen der Eltern resultiere, könne nicht als erzwungene Segregation betrachtet werden, ist Szilvay überzeugt.

Bence Apáti von Magyar Nemzet stimmt mit der Erklärung des Ministerpräsidenten voll und ganz überein. In den Augen des regierungsfreundlichen Kolumnisten werden die Orbán-Kritiker von ausländischen Agenten beeinflusst und finanziert. Apáti wirft den Kritikern vor, sich an einer „gegen Ungarn gerichteten Hetzkampagne“ zu beteiligen, die darauf abziele, die Regierung in Budapest zu diskreditieren. Apáti behauptet, dass die Klassenzimmer in Gyöngyöspata nicht nach Rassen, sondern nach sozialen Gesichtspunkten getrennt worden seien: Kinder, die grundlegende soziale und kulturelle Normen nicht respektieren würden, würden von anderen Kindern getrennt. Lehrer, die bereit seien, mit diesen Kindern zu arbeiten, verdienten Lob und Respekt, betont der Kommentator.
Massiv kritisiert Apáti diejenigen Roma-Familien, die ungeachtet eines dann Gyöngyöspata drohenden Bankrotts auf der finanziellen Entschädigung bestehen würden. Es sei ungerecht, dass hart arbeitende Menschen die Entschädigung finanzieren müssten, klagt Apáti und ergänzt, dass die Roma durch das Urteil zu Opfern stilisiert würden.
(NGOs, die den Roma-Familien Hilfe leisten, haben angekündigt, dass sie die Entschädigung erst dann einfordern würden, wenn die Kurie ihre Überprüfung abgeschlossen habe. Außerdem könnte die Entschädigung ihrer Ansicht nach eher von der Regierung als von der Gemeinde Gyöngyöspata gezahlt werden – Anm. d. Red.)

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