Presseecho zur ungarischen Notstandsgesetzgebung
6. Apr. 2020Wochenmagazine, Wochenendausgaben von Tageszeitungen sowie Internetmedien vertreten mit Blick auf die umfassenderen politischen und internationalen Konsequenzen der am Montag vom Parlament verabschiedeten Notstandsgesetze – wie nicht anders zu erwarten – extrem unterschiedliche Ansichten.
Magyar Narancs vergleicht in einem sarkastischen Leitartikel auf Seite eins Ministerpräsident Viktor Orbán mit „einem größenwahnsinnigen und aggressiven Kind“, das den Coronavirus-Notstand nutze, um sich als Feldmarschall und Retter der Nation ausgeben zu können. Sollte sich Ungarn durch die Krise wursteln und es schaffen, die Sterblichkeitsrate relativ niedrig zu halten, werde Orbán den Sieg für sich reklamieren, spekuliert das liberale Wochenmagazin. Falls nicht, dann werde die Regierung das ganze Unheil der Opposition in die Schuhe schieben und ihr vorwerfen, sie habe mit ihrer Weigerung, das parlamentarische Schnellverfahren zur Verabschiedung des Notstandsgesetzes anzuwenden, eine rasche Reaktion auf den Notstand verhindert.
Bezüglich der Kritik innerhalb der EU an den ungarischen Notstandsmaßnahmen (siehe BudaPost vom 4. April) weist Magyar Narancs den Vorwurf der Regierung zurück, wonach die EU mit zweierlei Maß messe und sich Ungarn herausgreife. Die Notstandsverordnungen machten aus Ungarn einen Außenseiter-Staat, der nur formell zur EU gehöre und seine Regierung ermächtige, mit seiner „hypnotisierten und unter dem Stockholm-Syndrom leidenden Bevölkerung“ nach Belieben umzuspringen, echauffieren sich die Leitartikler von Magyar Narancs.
In Élet és Irodalom interpretiert János Széky das Coronavirus-Notstandsgesetz als den abschließenden Schritt der Regierung in Richtung einer kompletten Ausradierung der Demokratie. Der liberale Autor vertritt die Auffassung, dass die Regierung Nachwahlen ausgesetzt habe. Mit anderen Worten: Landesweite Wahlen könnten erst stattfinden, wenn der Virus-Notstand vorbei sei. Die Regierung werde das Ende des Notstands erst erklären, wenn sie es für angemessen halte. Laut Széky könnte sie diese Waffe zur Verschiebung von Wahlen aus Furcht vor einem Machtverlust einsetzen, falls Ungarn aufgrund des Coronavirus in eine Wirtschaftskrise schlittern sollte.
Péter Németh von der Tageszeitung Népszava befürchtet, dass die Regierung mit Vorbereitungen für den Austritt Ungarns aus der EU begonnen habe. Ministerpräsident Orbán wolle mit dem Vorwurf, die EU würde die ungarischen Bemühungen um Eindämmung der Epidemie behindern, EU-feindliche Stimmungen schüren, argwöhnt der linksorientierte Redakteur. Damit wolle er Rückhalt für seine Absicht gewinnen, aus der EU auszutreten sowie sich die absolute und unbestrittene Macht zu greifen.
Auf Index wirft Tamás Német der Regierung einen Missbrauch des Ausnahmezustands vor. Allerdings wettert der liberale Kommentator weniger gegen die vom Kabinett erlassenen Sonderdekrete als gegen ein dem Parlament vorgelegtes Gesetzeskonvolut. (Es enthielt Vorschläge zur Begrenzung der Macht der Bürgermeister sowie andere kleinteilige Dekrete, die die Befugnis des Budapester Oberbürgermeisters Gergely Karácsony eingeschränkt hätten, von der Regierung geplante Museumsprojekte zu stoppen. Darüber hinaus hätte das Gesetzespaket das Recht auf Geschlechtsumwandlung abgeschafft, öffentliche Gebäude regierungsfreundlichen Instituten zur Nutzung zugeschanzt, die Regierung ermächtigt, Vorstände von Theatern zu beherrschen, sowie die Einzelheiten des Baus der Eisenbahnlinie Budapest-Belgrad als geheim eingestuft. Unterdessen hat die Regierung mitgeteilt, dass die geplante Einschränkung von Bürgermeisterkompetenzen nicht verwirklicht werde – Anm. d. Red.)
János Kárpáti räumt ein, dass die Epidemie außerordentliche Exekutivbefugnisse erforderlich mache. Allerdings, so der linksorientierte Kommentator auf 168 Óra, genieße die ungarische Regierung nicht das Vertrauen der Bevölkerung. Der Notstand mache Zusammenarbeit und Solidarität über die politischen Lager hinweg erforderlich. Nun müsse man jedoch zurecht befürchten, dass die Regierung ungewöhnliche Machtbefugnisse für ihre eigenen Zwecke missbrauchen werde, notiert Kárpáti und orakelt, dass es eher Regierungspolitiker und Juristen als Epidemiologen sein dürften, die über das Ende des Ausnahmezustands entscheiden würden. (Nach Angaben des liberalen Meinungsforschungsinstituts Publicus sind 76 Prozent der Ungarn mit den Notstandsmaßnahmen der Regierung zufrieden – Anm. d. Red.)
Tamás Fricz von Magyar Nemzet wiederum weist den Vorwurf des Machtmissbrauchs der Regierung zurück. Der regierungsnahe Kolumnist vermutet, dass die lautstarke Kritik am ungarischen Notstandsgesetz von einem verborgenen Netzwerk aus linken, liberalen und sogar einigen Europaparlamentsabgeordneten der Europäischen Volkspartei sowie George Soros-finanzierten NGOs orchestriert werde. Es wäre jedoch sinnlos, die falschen Bezichtigungen gegen die Regierung zurückzuweisen, da die Kritiker keinen Argumenten zugänglich seien und die Regierung sogar noch lauter beschuldigen würden, eine Diktatur einführen zu wollen.
Fricz zieht eine Parallele zwischen den aktuellen Angriffen auf die ungarische Regierung und dem Trianoner Friedensvertrag von 1920. In beiden Fällen planten europäische Führungspersönlichkeiten, globale Medien und Finanzinvestoren – von Freimaurern beeinflusst – eine Verschwörung gegen Ungarn, um das Land zu zerstören und auszuplündern. Diese Angriffe seien bedrohlicher als die Coronavirus-Pandemie, behauptet Fricz und fordert Ungarn auf, sich zu verteidigen – wenn nötig, indem es sich an alternative geopolitische Verbündete wende.
In Magyar Hírlap beschimpft László Csizmadia sowohl die EU als auch die ungarische Opposition, denn sie würden den demokratischen Willen des Volkes ignorieren. Der Vorsitzende des Bürgereinheitsforums (CÖF), einer den Fidesz unterstützenden Basisbewegung, wirft liberalen EU-Eliten und der einheimischen Opposition vor, sie führten einen koordinierten Angriff auf die Regierung. Csizmadia versteigt sich gar zu der Behauptung, die Opposition begehe Hochverrat, weil sie die Notstandspolitik der Regierung nicht unterstütze.
Auf dem Blog Mozgástér vertritt auch Tamás Lánczi die Ansicht, dass die ungarische Opposition mit den EU-Eliten konspiriert habe. Die Europäische Union habe keinen blassen Schimmer, wie die Pandemie eingedämmt werden könne. Und um ihre Inkompetenz zu verbergen, würden sowohl die westlichen Eliten als auch die ungarische Opposition die Regierung kritisieren und ihr die Verletzung demokratischer Normen vorwerfen. Immerhin ist Lánczi zuversichtlich, dass ihre Bemühungen diesmal nicht erfolgreich sein würden.
Auf Látószög wiederum weist Frank Füredi darauf hin, dass die Parlamente in verschiedenen Ländern der westlichen Welt ihre Plenarsitzungen ausgesetzt hätten. Demnach sei die ungarische Notstandsgesetzgebung keineswegs einzigartig. Der libertäre Kommentator, der als Mitarbeiter des regierungsfreundlichen Instituts des 21. Jahrhunderts tätig ist, ergänzt: Die Regierung Orbán mit ihrer beispiellosen Mehrheit könnte auch ohne Einführung des Ausnahmezustands tun, was immer sie wolle. Die „wahnsinnigen Angriffe“ auf die ungarische Regierung seien nichts anderes als ein „Kreuzzug“ – getrieben von der Angst „europäischer Technokraten“, andere Politiker könnten die Orbán’sche Variante von Demokratie und nationaler Souveränität für sich übernehmen.
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