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Am Horizont: Kompromiss über EU-Rechtsstaatlichkeitskonditionalität

11. Dec. 2020

Kommentatoren aus dem gesamten politischen Spektrum halten das von Deutschland vorgeschlagene neue System der Rechtsstaatlichkeitskonditionalität für einen großen Sieg Viktor Orbáns und seiner Regierung.

Ungarn und Polen wollen nach eigenem Bekunden den deutschen Kompromissvorschlag zur Frage des Junktims zwischen der Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien und Zahlungen aus Töpfen der Europäischen Union annehmen. Demnach würde diese sogenannte Rechtsstaatskonditionalität ausschließlich angewandt, um die ordnungsgemäße Verwendung von EU-Geldern und Mitteln aus dem Haushalt zu schützen. Der Entwurf der Vereinbarung sieht zudem vor, dass das Prinzip solange nicht angewendet werden könne, wie noch keine entsprechenden klaren Richtlinien definiert seien. Auch sei eine rückwirkende Anwendung nicht vorgesehen. Vor allem dürften keine Sanktionen verhängt und keine EU-Mittel zurückgehalten werden, bis auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) einen Verstoß gegen die Konditionalität bestätigt habe.
Justizministerin Judit Varga erklärte, die neue Regelung stelle einen großen Sieg für Ungarn und Polen dar, denn sie sichere beiden Ländern den Zugang zu EU-Fördermitteln, ohne dass sie ideologische Vorgaben zu erfüllen hätten. Oppositionspolitiker hingegen sehen in dem Arrangement einen Schlag für die Regierung und behaupten, sie habe sich dem Druck der EU beugen müssen. Künftig sei sie zur Einhaltung von Normen der Rechtsstaatlichkeit genötigt.

Ottó Gajdics pflichtet der Regierung bei: Die vorgeschlagene Regelung erfülle sämtliche Erwartungen der ungarischen Regierung. In Magyar Nemzet vertritt der regierungsnahe Kolumnist die Ansicht, dass das neue Abkommen nicht dazu missbraucht werden könne, Ungarn zur Aufnahme von Migranten zu erpressen.

Ungarn und Polen hätte im Grunde alles von ihnen Geforderte bekommen und die Europäische Union müsse ihre Kriterien für die Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität sehr stark verwässern, notiert Péter Magyari auf 444. Der liberale Kommentator weist darauf hin, dass die EU gemäß der neuen Regelung Gelder nicht vor 2022 oder gar 2023 werde zurückhalten können. Und selbst danach sei dies nur möglich, falls auch der EuGH gegen Ungarn urteilen sollte. Immerhin stellt Magyari fest, dass die Drohung mit dem Veto die Isolation Ungarns und Polens in der EU trotz alledem verstärken könnte.

Zsolt Kerner betrachtet den Deal als einen Sieg für alle – vor allem aber für Ministerpräsident Orbán. Auf 24.hu weist der linke Kommentator darauf hin, dass die Kriterien für den konkreten Einsatz der Rechtsstaatskonditionalität nicht vor den ungarischen Parlamentswahlen 2022 zum Zuge kommen dürften. Viktor Orbán sei zu Recht davon ausgegangen, dass die EU und Deutschland finanzielle Interessen vor die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit stellen würden, konstatiert Kerner.

„Wenn dies ein Sieg ist, wie würde dann eine Niederlage aussehen?“, fragt sich Mária Vásárhelyi in einem bitteren Facebook-Eintrag. Die linksliberale Soziologin hält positiv klingende Stellungnahmen oppositioneller Politiker für absurd, denen zufolge das neue System ein Sieg des Rechtsstaates sei. Vásárhelyi meint, dass „die EU wie immer in den vergangenen zehn Jahren Ungarn verraten hat“. Die EU habe Ministerpräsident Orbán geholfen, „noch mehr Geld zu stehlen und seine Diktatur zu festigen“ – solange er den finanziellen Interessen der EU nicht schade, kritisiert Vásárhelyi und behauptet, dass der ungarischen Opposition ohne die Hilfe der EU keinerlei Ressourcen für die Verteidigung der Demokratie zur Verfügung stünden. „Kanzlerin Merkel mag denken, dass sie die Einheit Europas gerettet hat. Ich aber denke, sie hat das Gegenteil getan und ist zur Totengräberin eines vereinten Europas geworden“, lautet das Schlussresümee Vásárhelyis.

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