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EU-Kompromiss zur Rechtsstaatskonditionalität schlägt nach wie vor hohe Wellen

14. Dec. 2020

Kommentatoren von links und rechts machen sich ihre Gedanken über die umfassenderen Auswirkungen der endgültig beschlossenen Rechtsstaatskonditionalität, also dem Junktim zwischen der Beachtung rechtsstaatlicher Kriterien und der Auszahlung von EU-Finanzhilfen. Vor allem fragen sie sich, wie und wann das System gegen Ungarn angewandt werden könnte.

László Néző kommentiert einen Artikel von George Soros, in dem der ungarisch-amerikanische Finanzier seine „moralische Entrüstung“ über den EU-Deal mit Ministerpräsident Orbán zum Ausdruck bringt und Bundeskanzlerin Merkel vorwirft, „vor der ungarischen und polnischen Erpressung kapituliert zu haben“. Der Magyar Nemzet-Redakteur merkt an, dass George Soros die Vereinbarung als Niederlage der Kritiker Orbáns interpretiere, während „seine Vasallen“ in Gestalt der ungarischen Opposition von einem Sieg sprächen. Die Empörung von George Soros sei ein klares Indiz dafür, dass er die EU als „ideologischen Spielplatz“ betrachte, den er problemlos dominieren könne. Soros habe zwar eine Schlacht, aber noch nicht den Krieg verloren, notiert der regierungsfreundliche Kommentator und erinnert daran, dass Vera Jourová, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Werte und Transparenz, den EU-Gerichtshof aufgefordert habe, über künftige Streitfälle hinsichtlich der Rechtsstaatlich jeweils im Eilverfahren zu entscheiden. All dies, so vermutet Néző, lässt harte Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und der EU erahnen.

Auf Mandiner äußert sich Gergely Dobozi empört über die Tatsache, dass Vera Jourová die EU-Gerichte zur beschleunigten Bearbeitung künftiger Rechtsstaatlichkeitsverfahren aufgefordert hat. Die Aussage Jourovás missachte die Unabhängigkeit der Gerichte und zeige außerdem, dass Brüssel die Rechtsstaatskonditionalität nutzen wolle, um politische Kontrolle über die Mitgliedsstaaten auszuüben, argwöhnt der konservative Publizist. Beschleunigte Verfahren würden die Qualität von EU-Gerichtsurteilen beeinträchtigen, behauptet Dobzi.

Die Opposition erhoffe sich Hilfe seitens der EU, des „imperialen Zentrums“, echauffiert sich auf dem selben Webportal Dániel Kacsoh. Der dem Lager der Regierung zuzurechnende Kommentator meint, dass die Opposition im Falle eines Wahlsieges im Jahr 2022 zum Diener des Westens werden würde – seien es Joe Biden oder George Soros. Ministerpräsident Orbán habe jedoch erneut bewiesen, dass Ungarn seine selbstgesteckten Ziele erreichen könne.

Péter Hajdú von Magyar Hang ist überhaupt nicht überrascht, dass die EU einen Deal angeboten und schlussendlich die Wünsche Ungarns und Polens auch akzeptiert habe. Gemäß der Interpretation Hajdús hat Ministerpräsident Orbán schon vor langer Zeit erkannt, dass er sich die Unterstützung von Bundeskanzlerin Merkel erkaufen könne, indem er in Ungarn aktiven deutschen Multis lukrative Geschäfte anbiete. Die Rechtsstaatskonditionalität sei für die EU nur so lange wichtig, wie sie den Interessen deutscher und anderer multinationaler Unternehmen nicht schade. Schließlich sei die EU immer noch auf Interessen und nicht auf gemeinsame Werte gegründet, schlussfolgert Hajdú.

In einem Beitrag für Portfolio fragt sich Attila Weinhardt, wie die Rechtsstaatskonditionalität praktisch umgesetzt werden könne. Selbst wenn die EU dem Vorschlag Vera Jourovás folgen sollte, sei es trotzdem nahezu unmöglich, noch vor der Parlamentswahl im April 2022 ein Verfahren gegen Ungarn abzuschließen, gibt Weinhardt zu bedenken.

Bea Bakó betont, dass die EU die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit nicht verwässert habe. Die Union könne die neue Vereinbarung problemlos sehr weit auslegen und zur Bestrafung von solchen Mitgliedsstaaten nutzen, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen würden, notiert die Rechtsexpertin auf Azonnali. Allerdings räumt sie auch ein, dass eine Bestrafung Ungarns noch vor den Wahlen 2022 sehr unwahrscheinlich sei. Und selbst wenn es dazu käme und die EU die Gelder für Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zurückhalten würde, könnte Ministerpräsident Orbán die Gelegenheit nutzen, um der Opposition Landesverrat vorzuwerfen und um die von der Opposition geführten Gemeinden finanziell unter Druck zu setzen.

In Népszava bezeichnet die ehemalige MSZP-Vorsitzende Ildikó Lendvai die Hoffnung der Linken, dass die EU Ministerpräsident Orbán endlich bestrafen und in die Schranken weisen werde, als reines Wunschdenken. Jedoch geht sie davon aus, dass der Regierungschef nur eine Schlacht gewonnen, den Krieg aber verloren habe, da die rechtsstaatlichen Auflagen umgesetzt würden – wenn auch später als ursprünglich geplant. Der Europäische Gerichtshof könnte die Rechtsstaatlichkeitskriterien in aus Budgetperspektive relevanten Fällen sehr großzügig auslegen, sodass es in einer ganzen Reihe von Fragen unter Berufung auf Kriterien der Rechtsstaatlichkeit eingreifen könnte. Lendvai fordert die ungarische Opposition auf, eine Art Kontrollorgan zu gründen, das Korruption und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit aufdecken und öffentlich machen sollte.

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