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Wochenpresse zur Kapitol-Belagerung

18. Jan. 2021

Nachdem ihre Ausgaben in der vorletzten Woche den Sturm wütender Trump-Anhänger auf den Washingtoner Capitol Hill aufgrund ihrer frühen Redaktionsschlüsse knapp verpasst hatten, räumen ungarische Wochenzeitungen den gewalttätigen Ereignissen in ihren folgenden Nummern viel Platz für Berichte und Kommentare ein.

In ihrem Leitartikel unterstützt Magyar Narancs ausdrücklich das eingeleitete Amtsenthebungsverfahren gegen den scheidenden Präsidenten Donald Trump, dem die Redakteure vorwerfen, Neonazis zum Lynchmord an den Mitgliedern der Legislative angestiftet zu haben. Seine Amtsenthebung, so hoffen die liberalen Leitartikler, werde alle zukünftigen Demagogen davon abhalten, ethnischen Hass ins Zentrum ihrer Programme zu rücken. Indem der Senat Donald Trump verurteile und ihm die Übernahme offizieller Ämter künftig unmöglich mache, werde es auch für seine Bewunderer in der ganzen Welt schwerer werden, sich auf sein Beispiel zu berufen und ihm nachzueifern, fügen die Autoren hinzu.

Nach den Präsidentschaftswahlen und der Räumung des Capitol Hill seitens der Behörden dürfte nunmehr der Kampf um die Seelen des amerikanischen Volkes anstatt lediglich um die Institutionen der Republik geführt werden, schreibt Gyula Krajczár in Jelen. Der ehemalige leitende Kolumnist von Népszabadság merkt an, dass es dem scheidenden Präsidenten sogar gelungen sei, seine Wählerklientel um Millionen von Amerikanern auszubauen. Diese Menschen hätten beim Betrachten des Sturms auf den Capitol Hill wahrscheinlich „einen ganz anderen Film“ gesehen. Wenn so viele Leute hinter Trump stehen könnten, dann müsse in Amerika eine „tiefe Krise der Lebensart“ grassieren, bei der mehr als ein alter Konsens zerbrochen zu sein scheine, einschließlich des allgemeinen Vertrauens in die Institutionen und die Wissenschaft. Nach den Geschehnissen, so schließt Krajczár, stelle sich die Frage, ob die Probleme dieser Menschen auf eine andere Art und Weise angegangen werden könnten als die von Trump repräsentierte.

Gábor Bencsik wiederum misstraut dem Vorwurf, Trump habe seine Anhänger wissentlich mit dem Ziel der Regierungsübernahme in Richtung Capitol Hill gehetzt. Doch auch er vertritt die Ansicht, dass der Präsident keine Massendemonstration in der Nähe des Kapitols zu einer Zeit hätte abhalten sollen, als der Kongress die Ergebnisse der von ihm so lautstark angefochtenen Wahl zu bestätigen hatte. Im Wochenmagazin Demokrata interpretiert Bencsik Trumps Niederlage als den Sieg einer neuen Allianz zwischen Radikalen des Social Engineering und dem Big Business. Beide zusammen würden den größten Teil der Medien beherrschen, und diese Dreier-Allianz sei selbst für Donald Trump, sein gewaltiges Ego und seine skrupellose Persönlichkeit zu stark gewesen, um ihr zu widerstehen. Trump – egal wie mächtig – sei ein Dilettant gewesen, schreibt Bencsik. Für einen Sieg über den neuen, vom Großkapital und den Mainstream-Medien unterstützten Jakobinismus wird nach Ansicht des Publizisten „ein Löwe der politischen Professionalität“ benötigt.

In seinem Mandiner-Leitartikel fragt Gergely Szilvay, warum die Hüter der „Checks and Balances“ genannten Gewaltenteilung nur zu gerne das Weiße Haus und beide Häuser des Kongresses in den Händen der Demokraten sehen würden. Ohne Ungarn namentlich zu erwähnen, erinnert der Autor daran, dass dieselben Leute dann ernsthafte Bedenken äußern würden, wenn eine politische Kraft zwei Drittel der Parlamentsmandate gewinne. Jetzt, da diese drei Machtzentren von Demokraten geführt würden, könne – sofern nicht von Gerichten gestoppt – eine politische Seite in Amerika durchsetzen, was sie wolle. Warum habe die sozialistische Spitzenpolitikerin Ágnes Kunhalmi eine Erklärung abgeben müssen, in der sie die Belagerung des Capitol Hill als „inakzeptabel und Ausdruck von Demokratieverachtung“ bezeichnet habe, fragt Szilvay und konstatiert: Linke ungarische Politiker hätten sich über die massenhaften Unruhen nach Trumps Sieg über Hillary Clinton vor vier Jahren nicht so sehr aufgeregt.

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