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Wochenpresse zu Strategiefragen

15. Feb. 2021

Als Reaktion auf die immer deutlicher werdende Verstimmung zwischen der Regierung in Budapest und mehreren wichtigen Verbündeten auf internationaler Ebene, die sich mittlerweile demonstrativ der linksliberalen Opposition zuwenden, widmen mehrere Wochenzeitungen umfangreiche Analysen dem Platz Ungarns in der Welt sowie der Einstellung des Landes zur eigenen Geschichte.

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Balázs Orbán ist Ungarn zwar Teil des westlichen Bündnisses, aber nicht bereit, Weisungen aus dem Ausland entgegenzunehmen. Orbán, der im Büro des Ministerpräsidenten als Staatssekretär für strategische Fragen arbeitet, äußert sich in einem Interview mit dem regierungsnahen Wochenmagazin Demokrata zu seinem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel „Das ABC des ungarischen strategischen Denkens“.
Er erklärt, dass Ungarn im vergangenen halben Jahrtausend stets versucht habe, seine Abhängigkeit von imperialen Mächten zu verringern und so viel Autonomie wie möglich zu erlangen. Seit der Wende hingegen sei Ungarn zu voller Souveränität aufgestiegen, die es teilweise mit der Europäischen Union teile, und zwar freiwillig. In den 1990er Jahren habe es noch so ausgesehen, als gäbe es ein universelles Erfolgsrezept, doch inzwischen sei dieser Glaube nachhaltig erschüttert worden.
Alle Länder, so Orbán, der nur ein Namensvetter des Ministerpräsidenten ist, müssten auf dem Weg zum Erfolg ihren eigenen Kurs einschlagen. In verschiedenen geopolitischen Kontexten dürfte es mehrere politische und wirtschaftliche Systeme oder kulturelle Traditionen geben, die ein Land erfolgreich machen könnten. Ungarn befinde sich auf der Suche nach seinem eigenen Rezept.
Auf die Frage, ob die Wahl von Joe Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten Ungarn zu einem Strategiewechsel veranlassen werde, antwortet Orbán: Die alte Weltordnung sei im Zerfall begriffen, während niemand wisse, wie die neue aussehen wird und wie die Vereinigten Staaten auf die neuen strategischen Herausforderungen reagieren werden. In jedem Fall sei Ungarns Ziel im Grunde dasselbe wie immer – sich nicht von außen kommandieren zu lassen, ganz egal von welcher Seite.

In seinem Leitartikel für die Druckausgabe von Mandiner wendet sich Barnabás Leimeiszter gegen die auf die Regierungsseite abzielenden Delegitimierungsversuche der Opposition. Ein Hilfsmittel dabei sind Vergleiche zwischen der Regierung und extremistischen Traditionen des Zweiten Weltkriegs.
(Zum aktuellen Hintergrund: Die linksliberale Opposition betreibt die Demontage einer Statue, die im XII. Budapester Stadtbezirk den im Zweiten Weltkrieg gefallenen Ungarn gewidmet ist und einen Turul darstellt – einen alten ungarischen Totem-Vogel, der in der Zwischenkriegszeit von Rechtsextremisten als Symbol verwendet wurde. Unter den Namen, die in Metallstreifen unter der Bronzestatue eingraviert waren, befand sich auch der des Großvaters des derzeitigen Bezirksbürgermeisters. Er wurde inzwischen als Massenmörder entlarvt. Bürgermeister Zoltán Pokorni, ein prominenter Fidesz-Politiker, ließ den Namen seines Großvaters entfernen und schlug vor, die Statue in ein Denkmal des Ersten Weltkriegs umzuwidmen, und dafür eine weitere, konsensfähige Statue zu Ehren der Opfer des Zweiten Weltkriegs errichten zu lassen. Seine linksliberalen Kritiker bestehen jedoch darauf, dass die Turul-Statue vollständig entfernt werden sollte – Anm. d. Red.)
Leimeiszter warnt nun vor der Versuchung, die Geschichte des Landes als eine fatale Abfolge von Verbrechen und Unrecht zu betrachten. Geschichte sei immer widersprüchlich und kompliziert, erklärt der Leitartikler, und weist darauf hin, dass historische Selbstgeißelung die Identität einer Nation zu zerstören drohe, indem sie Selbsthass und generationsübergreifende Reue für Untaten erzeuge, die von früheren Generationen begangen worden seien. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet Leimeiszter Deutschland als ein erschreckendes Beispiel, ohne näher zu erläutern, warum er diese Meinung vertritt.
Sein anderes Exempel, nämlich das der Vereinigten Staaten, wirft hingegen etwas Licht auf das, was er wohl über Deutschland sagen wollte: Traditioneller amerikanischer Patriotismus, so räumt der Autor ein, mag in europäischen Ohren bombastisch klingen, doch indem sie die Vergangenheit in eine Horrorshow kontinuierlicher Unterdrückung umschrieben, riskierten die Progressiven das zu zerstören, was die Amerikaner über alle Unterschiede hinweg eine. Infolgedessen rät Leimeiszter Ungarn davon ab, diesen Weg einzuschlagen.

In einem für 168 Óra verfassten Beitrag beklagt der Verfassungsrechtler Richard Szentpéteri Nagy, dass die Linke ihre eigene historische Tradition in Vergessenheit geraten lasse.
(Der 1. Februar ist als „Tag der Republik“ bekannt. Es handelt sich dabei um den Jahrestag der Inkraftsetzung eines Gesetzes, das 1946 die Monarchie beendete und die Republik ausrief. Wie schon seit Jahrzehnten wurde er auch 2021 öffentlich nicht gewürdigt. Das letzte Mal war der Tag der Republik während des Übergangs zur Demokratie im Jahr 1989 aufgegriffen worden, als József Antall, der ein Jahr später der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident werden sollte, vorschlug, den Status des Präsidenten der Republik nach dem Gesetz von 1946 zu gestalten – Anm. d. Red.)
Szentpéteri Nagy meint nun, die Linke solle erklären, warum sie sich praktisch an nichts aus ihrer eigenen Vergangenheit erinnere. Warum verfüge die Linke über keinerlei Traditionen, auf denen sie aufbauen könne, oder wenigstens über ein paar Namen aus ihrer eigenen Geschichte, auf die sie stolz sein könne? Oder gebe es nicht vielleicht ein paar Ereignisse, die die Linke als Grundlage für ein Narrativ heranziehen könnte? Dies sei eine Frage, die dringend einer Antwort harre, befindet Szentpéteri Nagy und mahnt: Sie hätte schon vor langer Zeit beantwortet werden müssen. Aber jetzt, im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr, sollte diese Antwort nicht länger aufgeschoben werden.

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