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Wochenpresse über das Afghanistan-Debakel

23. Aug. 2021

Kommentatoren versuchen, die Dimension des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung und des Triumphs der Taliban einzuordnen – und das, obwohl die amerikanischen Streitkräfte noch nicht einmal vollständig aus dem Land am Hindukusch abgezogen sind.

In Magyar Hang notiert Zsombor György, dass das von den USA unterstützte Regime einfach deshalb zusammengebrochen sei, weil die Menschen – einschließlich der Soldaten – nach so viel erfahrenem Leid einfach nur hätten überleben wollen. „Warum hätten sie ihr Leben auch für ein Regime opfern sollen, mit dem sie sich nicht identifizieren konnten?“, fragt der Autor, der Afghanistan dreimal besucht hatte, als ungarische Truppen Teil des Nato-Kontingents waren.

In ihrem Leitartikel beschreibt 168 Óra die Geschehnisse als völliges Versagen der westlichen Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika und der Nato. Die Redaktion des Wochenmagazins räumt ein, dass US-Außenminister Anthony Blinken mit seiner Äußerung richtig liege, der zufolge das ursprünglich von den USA gesteckte Ziel erreicht worden sei: Al-Qaida sei im Grunde genommen ausgelöscht und ihr Anführer Osama bin Laden schließlich zur Strecke gebracht worden. Das Problem jedoch: Bin Laden sei nicht besiegt worden – im Gegenteil, über zehn Jahre nach seinem Tod befinde er sich auf dem Siegeszug.

Die Taliban hätten sich einfach als unbesiegbar erwiesen, konstatiert Gyula Krajczár von Jelen. Man könne sie „in Grund und Boden bomben“, sie zwingen, sich in Berghöhlen zurückzuziehen, und viele von ihnen hätten getötet werden können. Dennoch würde immer wieder eine neue Taliban-Generation in Erscheinung treten. Und auch wenn sie sich mit der Zeit verändern würden, stets würden sie ein uns Westlern nicht genehmes Leben führen.

In Élet és Irodalom vergleicht Péter Wagner das plötzliche Auseinanderbrechen der großen afghanischen Armee mit der Art und Weise, wie sich dereinst die irakischen Truppen einfach in Luft aufgelöst hatten, nachdem sie 2014 in Mosul von ein paar hundert islamistischen Aufständischen angegriffen worden waren. Genau wie im Irak hätten sich die afghanischen Kommandeure oft als unglaublich korrupt erwiesen. Sie hätten Geld für den Einsatz nicht vorhandener Einheiten kassiert. Anstatt ihrem Land gegenüber loyal zu sein, seien sie ihren ausländischen Bankkonten gegenüber loyal gewesen, so Wagner.

In Demokrata bezeichnet Chefredakteur András Bencsik die Taliban als nationale Befreiungsbewegung. Warum seien die Afghanen nicht gefragt worden, ob sie sich eine Demokratie nach amerikanischem Vorbild mit LGBTQ-Rechten und ähnlichem wünschen würden, erkundigt sich Bencsik sarkastisch.

Ebenfalls in Demokrata warnt Sayfo Omar vor der Gefahr einer noch nie dagewesenen Emigrationswelle aus Afghanistan. Aus reinem Eigeninteresse sollte Europa versuchen, mit den Taliban zu leben. Das sei kein hoffnungsloses Unterfangen, da das neue afghanische Regime internationale Legitimität – und ausländische Hilfe – benötige, schreibt er.

In eine ähnliche Kerbe schlägt Heti Világgazdaság-Autor Imre Keresztes, der es für keineswegs bedenklich hält, dass China und Russland bereits Kontakte zu den Taliban aufgenommen haben, da sie zur Normalisierung des Lebens in Afghanistan beitragen könnten. Europa würde von einer möglichen Stabilisierung der Lage in diesem Land profitieren, ohne die ein enormer Flüchtlingsstrom unvermeidlich wäre, argumentiert Keresztes.

In Magyar Narancs stimmt Áron Tábor der US-amerikanischen Rückzugsentscheidung grundsätzlich zu und hält es für vernünftig, dass Präsident Biden daheim ein riesiges Infrastrukturprojekt auf den Weg bringt, anstatt Straßen in Afghanistan zu bauen. Dennoch vertritt er die Auffassung, dass eine Evakuierung der afghanischen Verbündeten per Luftbrücke eine moralische Priorität für die Vereinigten Staaten hätte sein müssen.

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