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Polen und die EU auf Kollisionskurs

29. Oct. 2021

Ein linker sowie ein liberaler Kommentator interpretieren den jüngsten Entscheid des polnischen Verfassungsgerichts zu einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs dahingehend, dass das nationale Recht Polens Vorrang vor dem der Europäischen Union habe. Dies stelle eine existenzielle Bedrohung für die Einheit der EU dar. Ein liberaler Rechtsexperte bezeichnet die Angelegenheit als juristisch nicht ganz eindeutig.

Das polnische Verfassungsgericht hatte jüngst entscheiden, dass EU-Verordnungen mit dem polnischen Grundgesetz unvereinbar seien – vorausgesetzt, aus ihnen sei abzuleiten, dass sie den nationalen Behörden eine Missachtung der Verfassung gestatten oder sie gar dazu zwingen würden. Dabei ging es um ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der die Einrichtung einer Disziplinarkammer zur Überwachung möglicher Rechtsverstöße polnischer Richter als rechtswidrig bezeichnet hatte. Da die polnische Regierung diese Auslegung ablehnte, hat der EuGH nunmehr eine Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag gegen Polen verhängt.

Das polnische Verfassungsgericht habe mit seinem Urteil, dem zufolge die polnische Verfassung in nicht ausdrücklich durch EU-Verträge geregelten Fragen Vorrang vor dem EU-Recht einzuräumen sei, einen Fehler begangen, notiert Zsolt Kerner von 24.hu. Der linke Kommentator hält es für unvermeidlich, dass die EU hart reagieren werde, um ein Nachziehen anderer Länder auszuschließen. Andererseits sei es unwahrscheinlich, dass Brüssel Polen bestrafen werde, da Ungarn bereits sein Veto gegen derartige Entscheidungen angekündigt habe. Auch die ungarische Regierung sei eine entschiedene Kritikerin der „schleichenden Machterweiterung“ der EU mit Hilfe des EuGH. Allerdings sei Ministerpräsident Viktor Orbán nie so weit gegangen wie das polnische Verfassungsgericht. Stets habe er eine Tür offen gelassen, um einen Deal auszuhandeln, so Kerner, der prophezeit, dass die EU wie immer lieber auf eine Verschleppungstaktik zurückgreifen werde, als schwierige Fälle ohne Chance auf einen einfachen Kompromiss in Angriff zu nehmen.

Ádám Kolozsi interpretiert die Entscheidung des polnischen Gerichts als eine Gefahr für die Einheit der EU. Der liberale Redakteur des Nachrichtenportals Telex erinnert daran, dass das Europäische Parlament bereits mit der Annahme einer Entschließung reagiert habe, in der das oberste polnische Gericht als unrechtmäßig bezeichnet werde. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts habe Vermittlungsbemühungen zwischen der EU und Polen erschwert, glaubt Kolozsi.

Juraprofessor Péter Hack bezeichnet auf Privátbankár die Frage, ob Polen gegen EU-Recht und damit gegen den Vertrag von Lissabon verstoßen habe, als äußerst brisant. In ihm, so der ehemalige Spitzenpolitiker der Liberalen, werde an keiner Stelle der Vorrang des EU-Rechts vor der nationalen Gesetzgebung erwähnt. Dieser Grundsatz ergebe sich aus der Praxis des EuGH und werde von den Mitgliedsstaaten nicht automatisch befolgt. Polen sei nicht das einzige Land, das glaube, nationales Recht habe in solchen Bereichen den Vorrang, in denen die Mitgliedstaaten ihre Souveränität nicht auf die EU übertragen hätten. Polen – aber auch Frankreich, Deutschland sowie Ungarn – verträten die Ansicht, dass die „verfassungsmäßige Identität“ der Mitgliedstaaten unantastbar sei.

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