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Disput um Erasmus-Programm im Spiegel der Wochenpresse

23. Jan. 2023

Liberale Kommentatoren sowie ein unabhängiger konservativer Kolumnist stimmen mit der Europäischen Kommission überein, dass das neue Hochschulsystem Kriterien der Rechtsstaatlichkeit nicht genüge. Regierungsnahe Kolumnisten weisen derlei Vorwürfe zurück und werfen der EU vor, zwecks Bestrafung Ungarns einmal mehr mit zweierlei Maß zu messen.

Justizministerin Judit Varga und Tibor Navracsics, Minister für Regionalentwicklung, werden sich in den nächsten Tagen mit der Europäischen Kommission treffen, um über die Zukunft des Erasmus-Studentenaustauschprogramms in Ungarn zu beraten (siehe BudaPost vom 13. Januar und 12. Januar).

In einem Gastbeitrag für Élet és Irodalom stimmt István Kenesei mit der Europäischen Kommission darin überein, dass das neue System der von staatlichen Stiftungen überwachten Universitäten die akademische Freiheit tatsächlich einschränke. Der Professor für Linguistik an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften räumt ein, dass das neue System den Universitäten mehr Autonomie bescheren könnte, macht jedoch geltend, dass die lebenslange Berufung von Politikern aus Regierungskreisen in die Vorstände der Universitäten die Unabhängigkeit der jeweiligen Institutionen einschränken werde.
Die ungarische Regierung werde einen Weg finden, die EU auszutricksen, glaubt der liberale Akademiker. Dazu werde sie deren Anforderungen formell erfüllen, um Ungarns vollen Zugang zum Erasmus-Austauschprogramm und anderen ausgesetzten Forschungsprojekten zu gewährleisten. Dessen ungeachtet, so die Prognose Keneseis, dürfte die Regierung dafür sorgen, dass sie auf andere Weise Einfluss auf die Universitäten nehmen könne. Schlimmstenfalls könnte die ungarische Regierung ähnliche Vereinbarungen über den Studentenaustausch mit russischen Universitäten abschließen, fügt Kenesei sarkastisch hinzu.

Dániel Kovács vom Wochenmagazin Magyar Demokrata wirft der EU vor, sie starte einen „Rachefeldzug“ gegen Ungarn, indem sie den Zugang zu EU-Forschungsgeldern auf Eis lege. Der konservative Kommentator stimmt mit der ungarischen Regierung in ihrer Einschätzung überein, dass die EU mit ihrer Forderung, Politiker dürften nicht zu Mitgliedern von Vorständen staatlicher Universitäten ernannt werden, mit zweierlei Maß messe.
Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf Beispiele in anderen Ländern, wo Politiker durchaus solche Positionen bekleiden könnten. Mit der „Eröffnung einer neuen Front“ will die Europäische Kommission laut Kovács der Regierung in Budapest eine Lektion erteilen und zeigen, dass Ungarn trotz der im Dezember letzten Jahres geschlossenen Vereinbarung keinen problemlosen Zugang zu EU-Fördermitteln erhalten und von der EU auch künftig unter Druck gesetzt werde.

Der Ausschluss Ungarns aus dem Erasmus-Programm würde auf einen „Hochschul-Huxit“ hinauslaufen, mahnt Bálint Ablonczy auf Válasz Online. Der unabhängige konservative Analyst behauptet, der Streit um die EU-Forschungsförderung sei eine von der Union abgeworfene „echte politische Atombombe“. Ablonczy räumt ein, dass Politiker in anderen Ländern durchaus in Universitätsleitungsgremien vertreten sein könnten, fügt aber hinzu, dass dies seltene Ausnahmen seien und es sich dabei um Lokalpolitiker handele, die normalerweise bis zum Ende ihrer Amtszeiten ernannt würden.

In Heti Világgazdaság bezeichnet Árpád W. Tóta die Entscheidung der Europäischen Kommission, die von staatlichen Stiftungen kontrollierten ungarischen Universitäten zu sperren, als vernünftig und legitim. Der liberale Kolumnist behauptet, dass die Regierung mit der an mehreren staatlichen Universitäten eingeführten Neuregelung das Ziel verfolge, „eine politische Kontrolle über sie auszuüben“.
Die Regierung versuche, die Universitäten in der Hoffnung zu dominieren, EU-Gelder in ihr ideologisches Hinterland lenken zu können. Tóta versteigt sich gar zu einem Vergleich des neuen Modells mit dem alten sowjetischen System, das die Hochschulen unter vollständige politische Kontrolle gestellt und dazu gebracht habe, sich auf absurde und unwissenschaftliche Theorien zu beschränken. In einer noch polemischeren Bemerkung ergänzt der Autor: Die ungarische Wissenschaft könnte der Praxis der deutschen Universitäten unter den Nazis folgen, die eine „jüdische Physik“ durch eine „deutsche Physik“ hätten ersetzen wollen.
Das neue ungarische System wird nach Einschätzung Tótas zu einer „Gegenselektion“ führen. Das bedeute, dass die Universitäten akademische Meriten ignorieren und ideologisch angepasste sowie politisch loyale Wissenschaftler fördern würden. Der Kolumnist sagt voraus, dass diese Schulen ihre Studenten einer „Gehirnwäsche“ unterziehen würden. Als Konsequenz dürften sie sich auf Homophobie und veraltete nationalistische Mythen konzentrieren und daher an europäischen Universitäten ohnehin kaum noch willkommen sein, so Tótas düstere Vision.

Tamás Pilhál von der Tageszeitung Magyar Nemzet weist Tótas Anschuldigungen als absurde Beschimpfungen entschieden zurück. In den Augen des regierungsnahen Kolumnisten ist es geradezu widerlich, dass Tóta die Vorstände staatlicher Stiftungen mit „schädlichen Parasiten“ vergleiche und dem ungarischen Universitätssystem das Betreiben von Homophobie und rassistischer Wissenschaft vorwerfe. Tótas Ansichten seien ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei regierungskritischen Journalisten um jämmerliche Loser handele, die ihr eigenes Land hassen und sich nicht um eine faktenbasierte Berichterstattung scheren würden, schließt Pilhál.

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