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Ungarn und die EU-Gelder im Spiegel der Wochenpresse

12. Jun. 2023

Linksorientierte Kommentatorinnen und Kommentatoren gehen davon aus, dass die Regierung lieber auf umfassende Teile der Ungarn eigentlich zustehenden EU-Transfers verzichten werde, als die von der Europäischen Kommission gestellten Bedingungen bezüglich der Rechtsstaatlichkeit zu erfüllen. Ihre regierungsnahen Kollegen glauben, dass der Streit um die eingefrorenen europäischen Gelder auf identitätspolitischen Meinungsverschiedenheiten beruhe.

Nach Ansicht von Szabolcs Szerető scheint Ministerpräsident Viktor Orbán offenbar auszutesten, inwiefern Ungarn auch ohne Gelder aus Brüssel regiert werden könnte. Der leitende Redakteur der Wochenzeitung Magyar Hang erinnert an eine Äußerung von Márton Nagy. Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung hatte erklärt, Ungarn werde ohnehin keinen Anspruch auf diese Transfers haben, sobald sich sein Pro-Kopf-BIP dem europäischen Durchschnitt annähere. Wenn sich die Regierung ernsthaft auf ein neues Zeitalter ohne EU-Gelder vorbereite, dann müsse die Attraktivität der Europäischen Union in ihren Augen schwinden, schlussfolgert der Journalist. Der Ministerpräsident dürfte das Gefühl haben, dass er bereits genug Zugeständnisse gemacht habe und sich keine neuen Bedingungen diktieren lassen wolle. Deshalb müsse die Mitgliedschaft selbst für ihn eine Fessel sein, die er gerne abschütteln würde, spekuliert Szerető.

Balázs Váradi hält es für falsch, dass die Opposition ihre Hoffnungen auf ein Vorgehen der Europäischen Kommission gegen die ungarische Regierung setze. Im Wochenmagazin Magyar Narancs räumt er ein, dass eine Reihe von Maßnahmen ergriffen worden seien, um die Regierung in die Schranken zu weisen – darunter die Sperrung von Finanztransfers in Höhe von acht oder neun Milliarden Euro. Zudem verfügten mittlerweile alle zuständigen Kommissare über ungarischsprachige Mitarbeitende in ihrem Team, die sie über die Vorgänge in Ungarn informieren könnten. Andererseits, so Váradi, wollten die mehrere Fabriken in Ungarn betreibenden deutschen Autohersteller nicht zu viel Lärm um das Land machen, und deutsche Politiker hätten stets ein offenes Ohr für sie. Die Bürokraten der Europäischen Kommission wollten nicht als Kanonenfutter im Kampf gegen die ungarische Regierung missbraucht werden und seien folglich geneigt, die von der ungarischen Seite vorgeschlagenen partiellen oder nur scheinbaren Lösungen zu akzeptieren. Alles in allem seien sämtliche Disziplinarverfahren innerhalb der Europäischen Union zwar unangenehm, stellten aber keine existenzielle Gefahr für die Regierung von Ministerpräsident Orbán dar, notiert Váradi und schließt: „Es wird an uns Ungarn liegen, sie eines Tages loszuwerden.“

In ihrem Leitartikel, der die wichtigsten Punkte der dieswöchigen Ausgabe von Heti Világgazdaság zusammenfasst, sagt Györgyi Kocsis voraus, dass das Fehlen europäischer Subventionen Ungarn ernsthafte Probleme bereiten werde. Dies umso mehr, als das Haushaltsdefizit die Regierung bereits dazu zwinge, sowohl Unternehmen wie auch Bürger mit neuen Steuern zu belasten. Da keine ausländischen Subventionen fließen würden, hänge das Überleben des Regimes davon ab, ob die Ungarn bereit seien, „das populistische und korrupte Regime“ aus eigener Tasche zu finanzieren. Die Leitartiklerin erwartet jedoch keine Wunder und verweist auf Worte eines ehemaligen antikommunistischen Dissidenten. Er habe gegenüber ihrem liberalen Wochenblatt erklärt: Die Ungarn würden sich tendenziell darauf verlassen, dass die Elite die Dinge für sie in Ordnung bringe. Diese Haltung sei auf das Überleben „autokratischer Strukturen“ zurückzuführen – geerbt vom untergegangenen kommunistischen Regime.

In Mandiner weist Gergely Szilvay Behauptungen seitens der Opposition zurück, wonach sich Ungarn in eine Sackgasse manövriert habe, die unweigerlich zum Austritt aus der Europäischen Union führen werde. Es sei auch absurd, wenn oppositionelle Intellektuelle regelmäßig unterstellten, die Menschen würden unter einem unterdrückerischen Regime leiden. Mehr als die Hälfte der Wählerschaft stimme immer wieder für dieselbe rechtsorientierte Regierung. Trotzdem würden ihre Gegner weiterhin behaupten, dass sie im Elend lebten. Man werfe dem Volk vor, einen Diktator gewählt zu haben. Anders ausgedrückt: Die linken Intellektuellen würden das Volk missachten, weil es ihren Ratschlägen nicht folge, macht Szilvay geltend.

Gábor Bencsik stellt die Probleme der ungarischen Regierung mit ihrer Opposition und der Europäischen Union in einen umfassenderen Kontext. Der Chefredakteur des Wochenmagazins Demokrata beschreibt die Mainstream-Linke in Ungarn im Speziellen und in der westlichen Welt im Allgemeinen als Nachfolgerin einstiger marxistischer Intellektueller. Entgegen der berühmten Marx’schen Voraussage habe sich das Proletariat zu einer Mittelklasse entwickelt. Aus diesem Grund hätten die neomarxistischen Intellektuellen eine neue unterdrückte Klasse ausfindig machen müssen, die sie verteidigen könne. Dabei seien sie in den verschiedenen Identitätsminderheiten fündig geworden – vor allem in den sexuellen Minderheiten. Das ehemalige Proletariat, das ihnen auf diesem Weg nicht habe folgen können, sei in ihren Augen somit zum Unterdrücker, das Großkapital hingegen zu ihrem Verbündeten geworden, sei es doch nur zu froh gewesen, von seiner früheren Position als Unterdrücker abgelöst zu werden. Beim klassischen Marxismus habe es sich um eine seriöse Theorie und Bewegung gehandelt – im Gegensatz zu der neuen, auf Identitätspolitik basierenden, notiert Bencsik.

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