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Orbáns neue Rhetorik

8. Jun. 2015

Konservative begrüßen die Zusage des Ministerpräsidenten, sich künftig versöhnlicher zu geben. Linke Beobachter dagegen sprechen von einer Täuschung.

m Leitartikel des Wochenmagazins Heti Válasz analysiert Chefredakteur Gábor Borókai die Rede von Ministerpräsident Viktor Orbán aus Anlass seiner fünfjährigen Amtszeit (vgl. BudaPost vom 1. Juni) und konstatiert in diesem Zusammenhang, dass Ungarn Zeuge eines „rhetorischen Regimewechsels“ sei. Mit anderen Worten: Viktor Orbán stimme endlich in den Chor seiner gemäßigten Unterstützer ein. Im Folgenden zählt Borókai Orbáns neue Leitlinien auf, als da wären: „Aufmerksamkeit, Vertrauen, die europäische Familie“ und dergleichen. Angesichts dessen schlussfolgert der konservative Journalist, der Ministerpräsident schwenke nunmehr auf die von den Moderaten seiner Partei im vergangenen Jahr vorgegebene Linie ein. Entweder habe er deren Druck nachgegeben oder sich von den schlechten Umfragewerten überzeugen lassen.
Was auch immer zuträfe, Worte müssten nunmehr Politik werden, fordert Borókai, der es für unbedingt notwendig hält, dass die führenden Politiker des Landes Kritik tolerieren und auf Propaganda – außer zu Wahlkampfzeiten – verzichten. Orbán habe das Land in den ersten vier Jahren seiner Herrschaft erfolgreich vor einer Finanzkrise bewahrt, allerdings solle man über das letzte Regierungsjahr besser den Mantel des Schweigens hüllen. Die Blicke sollten gen Zukunft gerichtet sein, und zwar im von Orbán vorgegebenen neuen Geist, wobei Borókai betont: „Dieses Mal geht es auch um Taten.“

In 168 Óra verwirft Tamás Mészáros den Gedanken, die „neuen verführerischen Worte“ des Regierungschefs bereitwillig als Zeichen der Mäßigung und der Aussöhnung zu verstehen. Hätte Orbán tatsächlich einen Sinneswandel vollzogen und wäre nunmehr entschlossen, „Aufmerksamkeit“ an den Tag zu legen, dann hätte er besser die Streichung einiger „wenig intelligenter und schädlicher“ Gesetze und Verordnungen verkünden sollen. Dazu zählt Mészáros auch die „Wiederherstellung der Unabhängigkeit“ öffentlicher Institutionen und Dienste sowie die „Inkraftsetzung europäischer Verfassungsnormen“. Bei den von den Konservativen nur allzu bereitwillig gepriesenen Neuerungen handele es sich lediglich um hohle rhetorische Versatzstücke, die Orbáns Anhängern das Vergessen der Widerwärtigkeit seiner Regierung erleichtern sollten. Abschließend äußert Mészáros die Hoffnung, „dass sich der in den vergangenen fünf Jahren angehäufte Dreck nicht aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis herauswaschen lässt“.

In der Tageszeitung Népszava interpretiert die ehemalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Ildikó Lendvai, die Worte des Ministerpräsidenten als Vorboten einer durch Veränderungen bei der Machtausübung sowie versöhnliche Gesten gekennzeichneten Ära. Lendvai geht davon aus, dass Orbán das Bild eines aufmerksamen Führers vermitteln wolle, der sich aber immer wieder in die Rolle des Hardliner gezwungen fühle – vor allem, weil ihm die Radikalen von Jobbik auf den Fersen seien. Die Rechtsaußenpartei habe in jüngster Zeit gemäßigte Töne angeschlagen und drohe, sich in die Kernwählerschaft des Fidesz hineinzufressen. Vor diesem Hintergrund – so Lendvai – müsse Orbán gleichzeitig gemäßigt wie auch radikal auftreten. Die Politikerin sieht in der neuen Rhetorik Orbáns den Versuch, schwankenden Wählerschichten zu beweisen, dass er alles liefern könne, was von Jobbik zu erwarten sei – allerdings in einer zivilisierteren und kultivierten Fasson.

Auf Mos Maiorum meldet sich Rudolf Rezsőházy zu Wort. Der emeritierte Professor der Katholischen Universität Löwen, Belgien, glaubt, dass heutzutage eher Mäßigung als Radikalität vonnöten sei. Einflussreiche Staatslenker würden häufig entweder mit Lajos Kossuth, der führenden Figur der ungarischen Revolte der Jahre 1848/49 gegen die österreichische Herrschaft oder mit Ferenc Deák, dem Architekten des Ausgleichs mit Österreich vom Jahr 1867, verglichen. Orbán stehe charakterlich eher Kossuth nahe. Allerdings räumt der Gelehrte ein, dass in den zurückliegenden 25 Jahren ein solcher Charakter notwendig gewesen sei, um die Strukturen des vergangenen kommunistischen Regimes zu vernichten. 
Doch sehe sich Ungarn mit dem Aufbau einer Wohlfahrtsgesellschaft nunmehr einer neuen Herausforderung gegenüber. Diese, so Rezsőházy, setze Charakterzüge voraus, die eher denen von Ferenc Deák ähneln würden. Orbán komme nunmehr in ein Alter, in dem Menschen problemlos ihre jugendliche Radikalität abstreifen und versöhnlicher werden könnten. Rezsőházy hält eine derartige Änderung auch mit Blick auf die ungarische Außenpolitik für notwendig, wo man eine neue Balance zwischen der Vertretung nationaler Interessen und der europäischen Solidarität ausfindig machen müsse. 
Indem Orbán eine neue Strategie ausgerufen habe, in deren Mittelpunkt „Aufmerksamkeit statt Macht“ stehe, habe der Ministerpräsident „mehr Deák und weniger Kossuth“ versprochen. Die Gemäßigten seien verpflichtet, ihn auf seine Worte festzunageln, notiert Rezsőházy abschließend.

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