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Migrationsdebatte – und kein Ende

3. Aug. 2015

Tages- und Wochenzeitungen widmen sich den moralischen und praktischen Auswirkungen der offiziellen ungarischen Migrationspolitik sowie der Haltung, die die Linke dazu einnimmt. Bei der zunehmend ideologisch und verbissen gehaltenen Debatte fahren beide Seiten schwere Geschütze auf.

Die Regierung greife auf „staatliche Zwangsarbeit“ zurück, um an der ungarischen Südgrenze einen Zaun zu errichten, der Migranten keineswegs fernhalten werde, kommentiert András Jámbor auf Kettős Mérce Pläne der Regierung, Ungarn ohne Job im Rahmen des öffentlichen Beschäftigungsprogramms bei dem Projekt einzusetzen. (Die Arbeitskräfte sollen die bis zum Monatsende geplante Errichtung des 175 Kilometer langen Zaunes entlang der Grenze zu Serbien unterstützen. Denjenigen Beschäftigungslosen, die eine Beteiligung an der öffentlichen Baumaßnahme verweigern, wird das Arbeitslosengeld gestrichen – Anm. d. Red.) Jámbor bezeichnet es als verabscheuungswürdig, dass die Regierung arme und bedürftige Landsleute benutze, um ihr Zaunvorhaben zu vollenden, das nach Ansicht Jámbors lediglich „politischen PR-Zwecken“ diene.

Im Leitartikel auf der Titelseite von Népszabadság wird der Bau des Zaunes als Geldverschwendung bezeichnet. Die führende linksliberale Tageszeitung erinnert daran, dass das Kabinett zu den ursprünglich veranlagten 6,5 Milliarden Forint zusätzliche 22 Milliarden bereitgestellt habe. Und das nur, um ein Projekt zu vollenden, das nach Ansicht des Blattes Migranten kaum werde aufhalten können. Népszabadság argwöhnt, dass die Regierung das Geld verwenden werde, um Unternehmern im Dunstkreis des Fidesz mit lukrativen Aufträgen zu versorgen. (Ein nicht näher quantifizierter Teil der 22 Milliarden wird in den Bau von zwei neuen Aufnahmezentren für Migranten fließen – Anm. d. Red.)

Ebenfalls in Népszabaság äußert Endre Aczél die Befürchtung, dass sich der Zaun nicht nur als wirkungslos, sondern als ausgesprochen kontraproduktiv erweisen könnte. Seit der Bekanntgabe des Vorhabens habe die Zahl der die serbische Grenze illegal überschreitenden Migranten zugenommen, weil viele von ihnen noch vor der Errichtung des Zaunes Ungarn erreichen wollten. Da sich westliche Staaten mit der Aufnahme neuer Massen von Migranten immer schwerer täten, würden sie in Ungarn in der Falle sitzen, prophezeit Aczél. Ungeachtet bestehender Verträge mit Ungarn könnte Serbien die Rücknahme von denjenigen illegalen Migranten verweigern, die über serbisches Gebiet nach Ungarn gelangt waren. Da sich Serbien kaum um die Registrierung illegaler Migranten schere, werde Ungarn nur schwer beweisen können, wer tatsächlich via Serbien eingereist sei, vermutet der Autor und schlussfolgert, dass die rigorose gegen Migranten gerichtete Politik Ungarns zuerst und vor allem den Interessen Deutschlands dienen werde, da sie den sich in diese Richtung bewegenden Migrantenstrom bremsen werde.

Und eine dritte Stimme aus Népszabadság: Károly Lencsés vermutet, dass Ungarn gegen die Genfer Konvention verstoßen werde, falls es Migranten ohne Dokumente automatisch nach Serbien zurückschicken sollte. Nach Ansicht des linksorientierten Kolumnisten könnte das ab 1. August gültige ungarische Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof landen, denn es öffne denjenigen ein mehrtägiges Zeitfenster, die gegen praktisch automatische Ausweisungen in gesetzlich als sicher erklärte Drittländer Einspruch erheben wollten.

Auch András Sztankóczy fragt sich, ob der Zaun zur Eindämmung des Migrantenstroms beitragen werde. In Heti Válasz bezeichnet es der konservative Kolumnist als unwahrscheinlich, dass der Zaun die Zahl illegaler Grenzübertritte – wie von der Regierung erhofft – deutlich senken werde. Unter Verweis auf westeuropäische Beispiele behauptet der Autor, der Zaun als solcher dürfte Migranten kaum abschrecken. Um das zu erreichen, wären ständige Patrouillen notwendig. Das aber wäre entlang der 175 Kilometer langen Grenze Ungarns zu Serbien nur schwer durchführbar, notiert Sztankóczy und ergänzt, dass Menschenschlepper ebenfalls eine zunehmend wichtige Rolle spielen könnten, da Ungarn sämtliche aus sicheren Ländern – darunter Serbien – eintreffende Migranten abschieben werde.
Um die Sache noch schlimmer zu machen: Die nach Serbien zurückgeschickten Menschen könnten erneut versuchen, nach Ungarn zu kommen. Diejenigen, die sich für eine Umgehung des Zaunes an der serbischen Grenze entschieden und nach Rumänien oder Kroatien auswichen, würden nach einem kurzen Umweg ebenfalls in Ungarn stranden, befürchtet Sztankóczy. Auch er glaubt, dass die strikten Einwanderungsgesetze Ungarns lediglich Deutschland beim Fernhalten von Migranten helfen – und zudem der Popularität der Fidesz-Regierung zugute kommen würden.

 

Moralische Dilemmas der Grenzkontrolle

Im Leitartikel auf Seite eins von Magyar Narancs wird der Regierung vorgeworfen, sie verunglimpfe Migranten. Laut dem linksliberalen Wochenblatt stelle das Kabinett Migranten als eine Bedrohung für Sicherheit, Wohlstand und Kultur sowie als ein Gesundheitsrisiko dar. Mittels ihrer gegen Migranten gerichteten Rhetorik und Gesetzgebung stelle sich die Regierung Orbán auf die Seite derjenigen, die das Land vor Einwanderung schützen wollten – und dabei nicht einmal vor Gewaltanwendung zurückschrecken würden (vgl. BudaPost vom 23. Juli).

Die Regierung betreibe das Spiel des Pöbels mit dessen reflexartigen Aggressionen und Hassgefühlen, kommentiert Imre Para-Kovács in Heti Világgazdaság. Der liberale Autor glaubt, dass die Regierung den Hass der Ungarn auf leicht identifizierbare Migranten lenken wolle. Zu diesem Zweck werde suggeriert, den Ungarn ginge es besser, wenn sie die Migranten aus dem Lande jagen würden. „Migranten sind perfekte Ziele. Das einzige Problem ist, dass, selbst wenn sie verjagt oder ermordet würden, wir ihnen ihre Häuser nicht wegnehmen und ihr Silber nicht stehlen können – denn sie haben nichts von alledem“, sinniert Para-Kovács.

In einem Essay für Élet és Irodalom bezichtigt Júlia Lévai die Regierung, sie führe „einen faschistischen Verteidigungskrieg gegen dämonisierte Migranten“. Die liberale Journalistin argwöhnt, die Regierung lasse Migranten ohne Hilfe auf der Straße zurück, um behaupten zu können, diese seien schmutzig, unzivilisiert und gefährlich. Je mehr die Migration kriminalisiert werde, umso mehr Migranten würden ungarische Behörden meiden und auf Straßen anstatt in Unterkünften leben, was „dem Rassismus weiter Vorschub leistet“ und eine noch schärfere gegen Einwanderer gerichtete Politik ermögliche, so Lévai. Gemäß der Vorstellung der Regierung „sind Migranten keine Menschen und können demnach an der Grenze wie Tiere gejagt werden“. Die Essayistin fügt hinzu, die Regierung verletzte nicht nur christliche Werte, sondern auch grundlegende menschliche Normen. In ihrer Schlussfolgerung behauptet Lévai unverblümt: „Ungarn ist ein barbarisches Land.“

Der Chefredakteur von Magyar Demokrata, András Bencsik, wiederum wirft der Linken vor, sie verfolge eine „bolschewistische Mentalität“. Anstatt sich der Realität zu stellen, wolle die Linke ihre unrealistischen und maßgebenden Prinzipien anwenden und die Wirklichkeit gemäß ihres eigenen Gusto und ihrer eigenen Ideologie formen. Laut dem regierungsfreundlichen Journalisten verteidigt Ministerpräsident Orbán die von der Migration bedrohte europäische Zivilisation. Im Folgenden phantasiert Bencsik, dass Ungarn sowie andere einwanderungskritische Staaten Mitteleuropas bald „zur einzigen Zuflucht für einheimische Nordeuropäer werden könnten“, die zum Verlassen ihrer Heimatländer gezwungen würden, da sich in ihnen immer mehr Immigranten niederließen.

Ebenfalls in Magyar Demokrata verurteilt Ádám Pozsonyi Linke und Liberale für das in seinen Augen „Verhätscheln von Migranten“. Der konservative und für seinen provokanten Stil bekannte Verfasser glaubt, dass die Linke die massiven sozialen Gefährdungen, die die Massenimmigration mit sich bringe, nach wie vor nicht erkenne oder zugebe – Gefährdungen, denen man nur mittels entschiedener Maßnahmen begegnen könne. Pozsonyi hält es für angebrachter, wenn Migranten als „Eindringlinge“ tituliert würden. Für den Autor ist es eigenartig, dass sich Liberale so sehr um materielles Privateigentum sorgen, aber gleichzeitig keinen Finger rühren würden, wenn gemeinsame Werte, darunter die Nationalkultur, die Religion sowie die Geschichte eines Landes, bedroht seien.

Alexandra Knopf von Magyar Hírlap vertritt die Auffassung, dass sich die Nationalstaaten mit der Einwanderung befassen müssten, da die Europäische Union keine gemeinsame Strategie vorgelegt habe. Falls die massenhafte Immigration nicht gestoppt werde, werde Europa seine Grundwerte, einschließlich der Toleranz, aufgeben müssen. „Wir können sicher sein, dass es mit Schwulen- und Lesbenparaden oder der Gleichberechtigung vorbei sein wird, falls Europa von Migranten überflutet werden sollte“, behauptet die konservative Journalistin. In diesem Sinne verteidige Ministerpräsident Orbán auch liberale Werte, wenn er die Einwanderung einschränke, schlussfolgert Knopf.

 

Diskursive Strategien und Solidarität

Die Linke greife auf die universelle Moral als Trumpfkarte zurück, argumentiert Zoltán Balázs in einem Kommentar für Magyar Narancs zur linken Migrationsdebatte. Der liberal-konservative Philosoph geht davon aus, dass die Linke die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit herunterspiele, indem sie behaupte, dass die Ungarn gegenüber Migranten die gleichen Verpflichtungen habe wie gegenüber ihren Familien und Landsleuten. Balász unterstreicht, dass Flüchtlingen zeitweilig Unterschlupf gewährt werden sollte, weist jedoch linksliberale Konzepte zurück, wonach Migranten ein unbedingtes Recht auf endgültige Niederlassung haben sollten. In einer liberalen und auf Konsens beruhenden Gesellschaft sollten Menschen darüber mitentscheiden können, ob und ggf. in welchem Maße sie zur Übernahme der Last bereit seien, die die Hilfe für Migranten mit sich bringe.

In Heti Válasz wirft András Zsuppán der Tageszeitung Népszabadság vor, sie verdrehe mit der Behauptung die Wirklichkeit, das Los der Migranten ähnele dem der von den Nazis im Zweiten Weltkrieg verfolgten Juden. (Népszabadság hatte über Budapester Aktivisten berichtet, die Migranten zeitweilig beherbergen. Dabei kamen Helfer zu Wort, die als Notunterkünfte dienende Wohnungen zu „sicheren Häusern“ erklärten. Dieser Begriff wurde verwendet, um Gebäude zu kennzeichnen, die verfolgten Juden während der Herrschaft der Pfeilkreuzler in Budapest 1944 diplomatischen Schutz boten – Anm. d. Red.) Zsuppán hält es für komplett absurd anzunehmen, dass die Lage der heutigen Migranten mit derjenigen der Juden unter der Nazi-Herrschaft zu vergleichen sei. Dergleichen Übertreibungen und falsche Parallelen machten jede vernünftige Debatte in der Frage unmöglich. Die umstrittene Wortwahl von Népszabadság sei sogar vom Chef der sich für Migranten einsetzenden Aktivisten verurteilt worden, konstatiert Zsuppán.

Népszabadság deute an, dass Migranten eher vor Ungarn als vor der Gewalt geschützt werden müssten, vor der sie geflohen seien, ergänzt Ottó Gajdics in Napi Gazdaság. Der regierungsfreundliche Kolumnist bezeichnet diesen „propagandistischen“ Gedanken als niederträchtig – und vollkommen falsch, da die ungarische Bevölkerung bedürftigen Migranten Hilfe zugutekommen lasse. Nebenbei merkt Gajdics an, dass die Parallele auch diejenigen Juden extrem verletzen könnte, die während des Zweiten Weltkrieges tatsächlich verfolgt worden seien, da sie ihre Leiden relativiere.

Die Linke unterstelle der Regierung gerne Fremdenfeindlichkeit, habe aber keine Schimmer, wie mit der Masseneinwanderung umzugehen sei, kommentiert András Stumpf eine vom Ungarischen Helsinki-Komitee organisierte Demonstration für Migranten. Auf Mandiner notiert der Autor, dass die Regierung nicht gegen Ausländer als solche eingestellt sei. Vielmehr erkenne sie, dass Ungarn nicht Zehntausende von Neuankömmlingen verkraften könne. Dessen ungeachtet hätten Ungarn mittels unterschiedlicher Organisationen, darunter mehrere christliche Wohlfahrtsverbände, Einwanderern enorm geholfen. Linksliberale seien nicht die einzigen, die Solidarität mit den Migranten bewiesen, erklärt Stumpf. Es sei für die Ungarn eine moralische Pflicht, Flüchtlingen zu helfen, bestätigt Stumpf, weist aber gleichzeitig die Vorstellung zurück, dass Zehntausenden Migranten die Möglichkeit der Ansiedlung in Ungarn geboten werden sollte oder könnte.

Die Ignoranten seien die einzigen, die dächten, es existierten einfache Lösungen zur Bewältigung der immer stärker wachsenden Probleme im Zusammenhang mit der Immigration, warnt Gábor Miklós in Népszabadság vor allzu vereinfachenden Ideen. Der linksorientierte Kolumnist hält die Aufrechterhaltung einer „Festung Europa“ sowie eine Verweigerung der Hilfe zugunsten Bedürftiger für moralisch brisant. Andererseits sei es auch unrealistisch anzunehmen, dass der Migrantenzustrom durch Eingriffe in ihren jeweiligen Heimatländern gestoppt werden könne. Im Gegenteil, das frühere militärische Einschreiten des Westens habe die Lage nur weiter verschlechtert, unterstreicht Miklós. Abschließend äußert er die Befürchtung, dass sich in der Migrationsdebatte anstelle eines konstruktiven Streits vereinfachende und brutale Lösungen durchsetzen würden.

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